Geschichte des Lehrstuhls
Lehrstuhl für Neues Testament
Die Theologische Fakultät an der Greifswalder Universität blickt 2006 auf eine 550jährige Geschichte zurück. Als eine der Gründungsfakultäten hat sie mit ihren Professoren stets dazu beigetragen, den guten Ruf der alma mater Gryphiswaldensis weit über die Grenzen Pommerns hinaus zu begründen und zu festigen.
Eine Differenzierung der Theologie in einzelne Disziplinen, wie sie heute das Bild jeder Fakultät bestimmt, setzte erst im Laufe des 19. Jhs. ein. Einer der ersten, die in Greifswald die Exegese des Neuen Testamentes in das Zentrum ihrer Arbeit rückten, war Carl Wieseler (1863-1882).
Aus Göttingen über Kiel nach Greifswald kommend, erlebte er hier die längste Zeit seiner akademischen Tätigkeit. Der Kirche war er eng verbunden und fungierte seit 1870 auch als Mitglied des Pommerschen Konsistoriums. In seiner Arbeitsweise vereinigte er eine konservative, zur Harmonisierung der Quellen neigende Grundhaltung mit historisch-kritischem Scharfsinn. Außer seiner Synopse (1843) erarbeitete er einflussreiche Studien zum Hebräerbrief (1867), zum Galaterbrief (1877) sowie zur Geschichte des Urchristentums (1880).
Auf Wieseler folgten mit Erich Haupt (1883-1888) und Adolf Schlatter (1888-1893) zwei bedeutende Persönlichkeiten, die in Greifswald noch am Anfang ihrer akademischen Laufbahn standen. Der in Stralsund geborene Erich Haupt kam von Kiel nach Greifswald, wo er neben Hermann Cremer eine große Anziehungskraft ausübte. Seit 1884 war er zugleich Mitglied des Konsistoriums in Stettin. Persönliche Differenzen veranlassten indessen den Wechsel nach Halle, wo er sein weiteres berufliches Leben verbrachte. Haupts literarische Produktivität bediente eine breite Palette an Themen - bis heute ist er noch durch einige Kommentare, etwa den zu den Gefangenschaftsbriefen (1897), präsent.
Adolf Schlatter (1888-1893) trat nach der Habilitation in Bern mit dem Ruf nach Greifswald seine erste ordentliche Professur an, bevor ihn sein Weg über Berlin schließlich nach Tübingen führte. Auch ihm gelang es, das Lehrangebot im Neuen Testament zu einem weithin attraktiven Anziehungspunkt zu gestalten. In Greifswald begann die Arbeit an den "Erläuterungen zum Neuen Testament", die im Lauf der Jahre schließlich das gesamte NT umfassten. Hier erfolgten auch grundlegende Studien zum rabbinischen und hellenistischen Judentum, deren reiche literarische Früchte Schlatter später in Tübingen erntete.
Kontinuität kehrte wieder mit der Berufung von Johannes Haußleiter (1893-1921) ein. Auf seiner ersten Stelle in Dorpat (im Fach Kirchengeschichte) hatte er sich bereits als Vertreter eines strengen Luthertums profiliert. Neben fortgesetzten Studien zu Luther und Melanchthon standen im Zentrum seiner Greifswalder exegetischen Arbeit Studien zur johanneischen Literatur, zur frühchristlichen Bekenntnisbildung sowie zu Fragen der Leben-Jesu-Forschung.
Während dieser Zeit bekleidete Julius Kögel (1907-1916) eine außerordentliche Professur im Neuen Testament. Theologisch ebenso konfessionell geprägt, machte er sich u.a. um die Neubearbeitung des "Biblisch-theologischen Wörterbuches der neutestamentlichen Gräzität" von Cremer (1911-1915 / 1923) verdient, wozu sich Arbeiten zur Jesus- und Gleichnisforschung gesellten.
In der a.o. Professur löste ihn Friedrich Büchsel (1916-1918) ab, der schon zwei Jahre später nach Rostock wechselte und sich durch verschiedene Johannesstudien Geltung erwarb.
Besondere Bedeutung für die Neutestamentliche Wissenschaft gewann auch die Tätigkeit von Gustaf Dalman (1917-1923 bzw. 1940). Nach den Jahren 1902-1917, in denen er das "Deutsche Evangelische Institut für Altertumswissenschaft des heiligen Landes" in Jerusalem aufgebaut und geleitet hatte, erhielt er 1917 einen Ruf auf den Alttestamentlichen Lehrstuhl in Greifswald. Er brachte dabei eine kostbare palästinakundliche Sammlung sowie eine Bibliothek bedeutender Judaika mit. Für die Exegese des Neuen Testaments sind seine Arbeiten "Orte und Wege Jesu" (1919), "Jesus-Jeschua" (1922), "Die Worte Jesu" (1930), "Jerusalem und sein Gelände" (1930), vor allem aber "Arbeit und Sitte in Palästina. 8 Bde." (1928-2001, abgeschlossen aus dem Nachlass) wichtige Standardwerke geworden.
Für einige Jahre lehrte auch Gerhard Kittel (1921-1926) in Greifswald Neues Testament, nachdem er sich in Leipzig habilitiert hatte. 1928 wechselte er nach Tübingen, wo er bis zum Ende seines Lebens blieb. Die exegetische Arbeit Gerhard Kittels war der Erforschung des Judentums gewidmet, wobei er zunächst - seit seiner Dissertation über die Oden Salomos (1913) - zahlreiche Verbindungen zur Lehre Jesu sah. Engagiert im Kreis deutsch-christlicher Theologie - die er nicht nur teilte, sondern mitbestimmte - unternahm er es jedoch, deren Antisemitismus programmatisch in die Exegese des Neuen Testamentes einzubringen und theologisch zu legitimieren. Diese Problematik hat ihre Spuren im Werk Gerhard Kittels hinterlassen - und fordert heute zu besonderer Sensibilität und Verantwortung heraus. Zunehmend vermochte Kittel nur noch den Gegensatz zwischen Jesus und dem Judentum seiner Zeit zu finden und zu betonen. Eine solche Sicht prägt auch weithin das große “Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament”, das Kittel noch in Greifswald konzipierte und dann während vieler Jahre von Tübingen aus herausgab. In die Greifswalder Frühphase fallen die Übersetzung der Sifre Deuteronomium (1922), "Die Bergpredigt und die Ethik des Judentums" (1925) sowie "Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und des Urchristentums" (1926).
Kurt Deißner (1926-1942) übernahm die neutestamentliche Professur von Kittel, nachdem er bereits seit 1920 ein persönliches Ordinariat in Greifswald bekleidet hatte. Promotion und Habilitation waren ebenfalls in Greifswald bei Johannes Haußleiter erfolgt. Seine Arbeit, die im exegetischen Bereich um die Themen der Paulusforschung und der frühchristlichen Missionstheologie kreiste, zeichnete sich zugleich durch ein großes kirchliches Engagement sowie durch eine reiche Vortragstätigkeit aus. 1931 bis 1933 bekleidete er das Amt des Rektors der Universität.
Nach Deißners Übernahme des Lehrstuhles hatte Julius Schniewind (1927-1929) ein persönliches Ordinariat inne. Über die Stationen Halle, Greifswald, Königsberg und Kiel kehrte er schließlich wieder nach Halle zurück. Die exegetische Arbeit betrieb Schniewind bewusst im Rahmen einer gesamtbiblischen Theologie. Aufgewachsen in einer Wort-Gottes-Frömmigkeit pietistischer Prägung öffnete er sich gleichermaßen auch der historischkritischen Methodik der Schriftauslegung. Popularität gewann Schniewind u.a. durch die Neubegründung des Kommentarwerkes "Das Neue Testament Deutsch" (NTD) sowie durch sein kirchliches Engagement in Halle. In Greifswald entstand, noch am Anfang einer umfangreichen Publikationstätigkeit, die wichtige Studie "Euangelion" (1927 / 1931).
Joachim Jeremias (1929-1935) folgte als persönlicher Ordinarius auf Julius Schniewind. Da er einen Teil seiner Kindheit in Jerusalem verbracht hatte, war er schon früh unter den Einfluss Gustaf Dalmans geraten, der auch das Thema seiner Dissertation "Jerusalem zur Zeit Jesu" anregte. Die Ausarbeitung zu einer umfangreicheren Druckfassung (1923-1937) füllte die Greifswalder Jahre aus. Hier entstanden zudem Bücher wie "Die Passahfeier der Samaritaner" (1932), der Kommentar zu den Pastoralbriefen im NTD (1934) oder "Die Abendmahlsworte Jesu" (1935).
In späteren Jahren fertigte Jochachim Jeremias zu Paul Billerbecks großem "Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch" (dessen Manuskript in Greifswald liegt) die Register an - Billerbeck hatte von der Greifswalder Fakultät die Würde eines Ehrendoktors erhalten.
Etwa zeitgleich zu Jeremias und Schniewind hatte Otto Bauernfeind (1928-1931) eine außerordentliche Professur in Greifswald inne. Zunächst in der Praktischen Theologie promoviert, widmete er sich mit seiner Habilitation 1922 der Exegese. Später wirkte er als Ordinarius in Tübingen und wurde vor allem durch seine Studien zur Apostelgeschichte und zu Josephus bekannt.
Mit Ernst Lohmeyer (1935-1946) gewann Greifswald einen der profiliertesten Neutestamentler - zunächst ohne eigenes Zutun. Lohmeyer, der sich als Rektor der Universität Breslau 1932 für jüdische Kollegen eingesetzt hatte, wurde 1935 von den Nationalsozialisten nach Greifswald strafversetzt. Hier verfasste er Arbeiten wie "Galiläa und Jerusalem" (1936), den bedeutenden Kommentar zum Markusevangelium im KEK (1937), "Kultus und Evangelium" (1942), "Gottesknecht und Davidsohn" (1945) oder "Das Vaterunser" (1946). Eigenwillig in Sprache und Denken entzog er sich den vielfältigen Schulbildungen und -streitigkeiten seiner Zeit. Dass er sich dem zunehmenden Antisemitismus in der Auslegung der biblischen Schriften verweigerte, macht ihn in der Wissenschaftslandschaft der 30er und 40er Jahre zu einer Ausnahmeerscheinung. Nach dem Buch seines Greifswalder Vor-Vorgängers Gerhard Kittel über "Die Judenfrage" von 1933 etwa wandte er sich mit einem Brief entschuldigend und klärend an Martin Buber.
Nach 1945 wurde Lohmeyer dank seiner integren Persönlichkeit zum ersten Rektor der neu zu organisierenden Greifswalder Universität gewählt. Dem kommunistischen System stand er jedoch ebenso kritisch gegenüber. In der Nacht vor der feierlichen Wiedereröffnung der Universität am 15. Februar 1946 wurde Ernst Lohmeyer vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet. Die Gründe - eine bis heute nicht völlig aufgeklärte politisch motivierte Denunziation - blieben ebenso wie sein Verbleib im Dunkeln. Vom Tod Lohmeyers erfuhren die Familie und die Greifswalder Öffentlichkeit erst 1958. Bereits am 19. September 1946 war er in Greifswald erschossen worden. 1996 fand ein Rehabiltitationsverfahren statt. Der Neubau, den die Theologische Fakultät im Jahr 2000 am Rubenowplatz bezog, trägt seither den Namen "Ernst-Lohmeyer-Haus".
Die schwierigen Jahre der Behauptung theologischer Arbeit im Kontext einer am Aufbau des Sozialismus aktiv beteiligten Universität wurde im Fach Neues Testament von verschiedenen Persönlichkeiten bewältigt. Die Lücke, die Lohmeyer hinterließ, überbrückte 1947 kurzzeitig Konrad Weiß mit einem Lehrauftrag, bevor er noch im selben Jahr einen Ruf nach Rostock erhielt.
Gerhard Delling (1947-1950), dessen Weg schon bald nach Halle führte, erarbeitete in seiner Greifswalder Zeit die wichtige Studie "Der Gottesdienst im Neuen Testament" (1952) und widmete sich später intensiv der Arbeit am Corpus Hellenisticum Novi Testamenti.
Erich Fascher (1950-1954) kam über Jena und Halle nach Greifswald, um dann in Berlin seine längste Wirksamkeit zu entfalten. Zur 500 Jahrfeier der Greifswalder Universität hielt er 1956 den Festvortrag unter dem Thema "500 Jahre Christentum. Wandlungen und Ausblicke".
Werner Schmauch (1954-1964), ein Mann der Bekennenden Kirche und Schüler Lohmeyers, begann - in Berlin habilitiert - in Greifswald die akademische Tätigkeit. In besonderer Weise pflegte er das Erbe seines Lehrers: Er ehrte ihn bereits 1951 durch eine im Westen Deutschlands erschienene Festschrift, gab 1956 aus dem Nachlass den fragmentarisch vorliegenden Matthäus-Kommentar Lohmeyers heraus und fügte 1964 Lohmeyers Kommentar zu den Gefangenschaftsbriefen noch ein Beiheft hinzu. Kirchlich engagiert entfaltete er eine reiche Vortragstätigkeit
Nach Werner Schmauchs Tod 1964 übernahm Traugott Holtz (1965-1971) den Lehrstuhl für Neues Testament, bevor er sechs Jahre später Nachfolger seines Lehrers Gerhard Delling in Halle wurde. In Halle hatte er sich nach einem Studium in Rostock bereits mit den Arbeiten über "Die Christologie der Apokalypse des Johannes" (1959) sowie die "Untersuchungen über die alttestamentlichen Zitate bei Lukas" (1964) qualifiziert.
Mit Günter Haufe (1971-1996) begann in der Phase einer gewissen universitätspolitischen Konsolidierung auch eine Stabilisierung im Fach Neues Testament. Über den langen Zeitraum von 25 Jahren erstreckt sich seine Wirksamkeit in Greifswald. In der Lehre wurde Günter Haufe prägend für Generationen von Pfarrern der Pommerschen Kirche - und weit darüber hinaus. Seine exegetische Arbeit bewegte sich zwischen den Schwerpunkten des Selbstverständnisses Jesu und der Untersuchung frühchristlicher Paränese, als deren letzte Frucht 1999 der Kommentar zum 1. Thessalonicherbrief im ThHK (Leipzig) erschien. In der Leitung der Sektion Theologie trug er ebenso Verantwortung wie in verschiedenen Gremien seiner Landeskirche und der EKU. Ihm fiel es zu, auch die "Wende" an der Theologischen Fakultät in Greifswald mitzuerleben und mitzugestalten
Peter Pilhofer (1996-2002, jetzt Erlangen) brachte nach den Jahren eingeschränkter Reisemöglichkeiten in der DDR die Welt Griechenlands und Kleinasiens mit nach Greifswald. Seine Trilogie über Philippi (I 1995, II 2000, III in Vorbereitung), einschließlich einer erschöpfenden Edition von Inschriften, drückte der Arbeit am Neuen Testament insgesamt ihren charakteristischen Stempel auf. Der Ansatzpunkt der Exegese bei archäologischen und lokalgeschichtlichen Forschungen schlug sich anregend im interdisziplinären Gespräch, in Exkursionen, Vorträgen und Lehrveranstaltungen nieder. Sein Buch "Die frühen Christen und ihre Welt" (2002) bietet inzwischen eine Sammlung "Greifswalder Aufsätze".