Die Straßen von // The Streets of Jerusalem
Im Jerusalem des 20. Jahrhunderts trafen sich nicht nur die drei monotheistischen Weltreligionen, sondern auch die Reisenden vieler Nationen. Mit ihrem 'fremden Blick' fotografierten deutsche Gäste damals vor allem die Altstadt mit ihren Sehenswürdigkeiten, aber auch die dortigen Menschen und Tieren. In der Ausstellung "Die Straßen von Jerusalem" fügen sich ausgewählte Aufnahmen der Greifswalder Dalman-Sammlung – entlang der Biografien ihrer Fotograf*innen – zu einer besonderen Stadttopografie.
20th-century Jerusalem was not only a meeting place for the three monotheistic world religions, but also for travellers from many nations. With their ‘foreign perspective’, the German visitors took photos of the Old City and its sights, but also of the people and animals that lived there. In the exhibition ‘The Streets of Jerusalem’, selected photographs from Greifswald’s Dalman Collection merge to unfold a special topography of the city, in line with the biographies of the photographers.
Die Fotograf*innen // The Photographers
Gustaf Dalman
Lebensdaten // life dates: 1855–1941
Beruf // profession: Theologe // theologian
Besuch im Heiligen Land // visit to the Holy Land: ab // as of 1899
Fototyp // photographic manner: dokumentarisch // documentary
In einem autobiografischen Fragment führte der alternde Theologe Gustaf Dalman um 1930 zwei Vorlieben auf seine früh verstoberne Mutter zurück: das Interesse am Heiligen Land und die Neigung zur Zeichenkunst. So hat schon der junge Gustaf Marx, der später den schwedischen 'Mädchennamen' Dalman seiner Mutter annehmen sollte, mit Bleistift und Feder viele Grafiken dieser Region kopiert. In seiner akademischen Karriere studierte und lehrte er dann zunächst die Sprachen. Er war nicht nur als Kenner der jüdischen Schriften bekannt, sondern stellte auch ein bis heute gültiges Aramäisch-Wörterbuch zusammen. Einen Wendepunkt bildete seine erste Reise nach Palästina und Syrien in den Jahren 1899/1900 – und genau zu diesem Zeitpunkt sind seine ersten eigenen Fotoaufnahmen belegt. Obwohl er mit einem Stipendium eigentlich als 'Judenmissionar' unterwegs war, führte er die Kamera wie ein Archäologe oder Ethnologe. Er porträtierte Landschaften und historische Stätten, aber vor allem die arabische Bevölkerung in Aleppo und im Aglun-Gebirge. Immer wieder warf er dabei einen Blick auf das Alltagsleben, auf die Feste und Gebräuche.
Als Dalman 1902 erneut nach Palästina reiste, baute er als Gründungsdirektor in Jerusalem das Deutsche Evangelische Palästina-Institut auf. Auch hier konzentrierte er sich weniger auf die Archäologie, sondern mehr auf die Alltagswelt der Menschen vor Ort. Denn hier, so glaubte er, könne man dem Leben der biblischen Zeit am nächsten kommen. In seinen Jerusalem-Fotografien jener Jahre lassen sich zwei Gruppen ausmachen: zum einen die Bilder deutscher Einrichtungen, allen voran das neue Palästina-Institut in der Äthiopischen Straße, zum anderen Monumente und Straßenszenen in den muslimischen und jüdischen Quartieren. So wie er als Schüler klassizistische Grafiken kopiert hatte, baute er nun auch seine Bilder oft symmetrisch und frontal auf. Aber er griff ebenso spontan zur Kamera und nahm vorbeieilende Passant*innen mit auf die Aufnahme. In jedem Fall stand für ihn nicht der ästhetische Wert, sondern die Dokumentation des Vorgefundenen im Zentrum. Exakt ging vor schön. Dass ihm von Zeit zu Zeit dennoch ein 'schönes' Bild glückte, nahm er eher billigend in Kauf.
Nicht nur Dalmans eigene Fotografien, sondern auch die Schnappschüsse seiner Jerusalemer Stipendiaten und Ankäufe von professionellen Lichtbildner*innen finden sich heute gesammelt an der Theologischen Fakultät Greifswald. 1917 hatte er hier, als er durch den Ersten Weltkrieg nicht zurück nach Jerusalem konnte, einen Ruf angenommen. Auf seinem neuen Lehrstuhl gründete er 1920 rasch ein eigenes Institut zur Palästinakunde, das Teile seiner einstigen Jerusalemer Sammlung, aber ebenso spätere Ankäufe und Schenkungen umfasst. In Greifswald werden heute rund 20.000 historische Fotografien des Heiligen Landes verwahrt.
Valentin Schwöbel
Lebensdaten // life dates: 1863–1921
Beruf // profession: Theologe // theologian
Besuch im Heiligen Land // visit to the Holy Land: ab // as of 1905
Fototyp // photographic manner: technikbegeistert // technophile
Der Nachlass des 1921 verstorbenen Theologen, Mannheimer Pfarrer und Palästinageografen Valentin Schwöbel liegt bis heute im Greifswalder Dalman-Institut. 1905 war er als Stipendiat in Jerusalem bei Dalman, wiederholte diese Reise danach mehrfach. Bei dem begeisterten Hobbyfotografen lässt sich beispielhaft die technische Seite seiner Ausrüstung eingrenzen: auf eine Laufbodenkamera mit Auslöser. In seinem Nachlass findet sich z. B. ein Notizbuch mit Tabellen, die ganze Bildreihen nach Blende, Zeit und Gegenstand listen. Zudem erprobte er, wie eine seiner in Greifswald erhaltenen Aufnahmen belegt, den Einsatz von Blitzlicht bei Nacht.
Für seine Stipendiaten – deutsche Theologen, die für jedes Jahr für einige Wochen zu ihm nach Jerusalem kamen – wirkte Gustaf Dalman auch als 'Foto-Mentor". Schon früh forderte er sie dazu auf, sich mit einem guten Reiseführer, einem Notizbuch, exaktem Kartenmaterial und ggf. nach Möglichkeit auch mit einer Kamera auszustatten. Er forderte von ihnen einen genauen Blick, der allen Eindrücken der Kulturlandschaft Palästina die gleiche Aufmerksamkeit schenken sollte. Für eine der Dalman-Exkursionen von 1905 berichtete Valentin Schwöbel im "Palästina-Jahrbuch" von systematischen Fotostopps: „Auf unserem Programm für den letzten März stand […], den ‚Töchtern Jakobs’ an der Brücke einen Besuch zu machen und dabei den photographischen Apparat spielen zu lassen”. Im Palästinajahrbuch von 1922 sprach Dalman von seiner Greifswalder „Zentrale für Palästinabilder”, deren Bestand sich auf rund 800 eigene Fotografien und den Nachlass des verstorbenen Valentin Schwöbel erstreckte, letzteren hatte er in den 1920er und 1930er Jahren von dessen Familie erworben.
Heinrich Seeger
Lebensdaten // life dates: 1888–1945
Beruf // profession: Theologe // theologian
Besuch im Heiligen Land // visit to the Holy Land: 1914, 1929/30
Fototyp // photographic manner: ästhetisch // aesthetic
Mit die schönsten Amateurfotografien der Dalman-Sammlung stammen vom Tübinger Theologe, Palästinakundler und Studienrat Heinrich Seeger. Er war 1914 als Stipendiat am Palästina-Institut in Jerusalem und gehörte damit zum letzten Kurs, den Gustaf Dalman vor Ort betreuen konnte. Nach 15 Jahren – inzwischen hatte Seeger mit seiner Promotion zu antiken Wasserleitungen bei Jericho von sich reden gemacht – kehrte Seeger nach Jerusalem zurück: Von 1929 bis 1930 leitete er das dortige Palästina-Institut.
Im Rahmen der Tübinger Ausstellung "Queer" wurde 2021/22 die Biografie Seegers neu in den Blick gerückt. 1934, ein Jahr nach der Machtüberlassung an die Nationalsozialist:innen, wurde er bei der Ministerialabteilung angeschwärzt – offenbar stand er der Bekennenden Kirche nahe. Während dieser Vorfall für Seeger noch ohne größere Folgen blieb, wurde Seeger 1939 im Urlaub in Breslau von der Gestapo verhaftet. Nach Paragraf 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, wurde er 1940 zu einem halben Jahr Haft verurteilt. DIe Universitäten Tübingen und Brelsau entzogen ihm daraufhin die (Ehren-)Doktorwürde. Nachdem er seines Dienstes enthoben worden war, fand er u. a. im württembergischen Landesbischof Theophil Wurm einen Fürsprecher und eine Anstellung beim Evangelischen Bund. Zuletzt wurde er zum 'Volkssturm' eingezogen und fiel im April 1945 bei Berlin-Lichterfelde. Posthum wurde Seeger 2003 die Doktorwürde von der Universität Tübingen wieder zuerkannt.
Alfred Jepsen
Lebensdaten // life dates: 1900–1979
Beruf // profession: Theologe // theologian
Besuch im Heiligen Land // visit to the Holy Land: 1955
Fototyp // photographic manner: spontan // spontaneous
Die ältesten datierbaren Palästina-Fotografien der Dalman-Sammlung aus der Zeit nach 1945 stammen aus dem Frühjahr 1955 vom Alttestamentler Alfred Jepsen, der nach Kriegsende in Greifswald lehrt und das dortige Institut leitet. Rund 80 seiner Aufnahmen sind hier als Glasplattendias erhalten – ein Bestand, der im Rahmen eines Forschungsprojekts um 2020 erstmals durch seinen persönlichen Nachlass und Informationen der Tochter ergänzt werden konnte. Damit lässt sich beleuchten, wie Jepsen 1955 aus der DDR heraus eine Palästina-Reise möglich wurde: Von 1923 bis 1930 deutscher Probst in Jerusalem und Verwalter des dortigen Instituts, war Jepsens Fachkollege Hans Wilhelm Hertzberg (1895–1965) inzwischen Ordinarius für Altes Testament in Kiel. Er hatte Jepsen zu einer vom CVJM organisierten Fahrt eingeladen. Damit konnte er in Jordanien, das vor dem Sechstage-Krieg (1967) die meisten biblischen Stätten umfasste, seine Forschungen an den Originalschauplätzen vertiefen.
In seinem Notizbuch vermerkte Jepsen: „Reise für Deutsche umständlicher. Beyrouth, Damaskus, Amman.“ Und in einem begonnen Vortragsmanuskriptes zur Reise schrieb er unter dem Stichwort „Orient heute“ u. a.: „Autos, Frauen mit u. ohne Schleier, Lautsprecher auf d. Minarett“. Es ist die Erfahrung, dass sich das Heilige Land dann doch an vielen Ecken und Enden moderner darstellt als erwartet. Wenn man bei den in Greifswald überlieferten Jepsen-Aufnahmen eine fotografische Handschrift festmachen möchte, dann den Charme der Beiläufigkeit: leichte Unschärfen, extreme Auf- und Untersicht, angeschnittene Gebäude- oder Ausstattungsdetails, vor dem Motiv stehende oder dieses kreuzende Menschen. Auch (und vielleicht gerade) diese Aufnahmen hielt Jepsen für im Zusammenhang der Sammlung überlieferungswert.
Gil Hüttenmeister
Lebensdaten // life data: * 1938
Beruf // profession: Judaist
Besuch im Heiligen Land // visit to the Holy Land: seit // since 1958
Fototyp // photographic manner: künstlerisch // artistic
Das hier gezeigte Kleinbilddia, 1958 vom deutschen Reisenden Frowald Hüttenmeister aufgenommen. In leichter Untersicht fotografiert, schaut ein dunkelhaariges Mädchen selbstbewusst in die Kamera. Sein Blick lässt keinen Raum für Verniedlichung oder romantische Orientalismen. Klare, kubische Formen bestimmen das im Anschnitt gezeigte Haus. Als wäre es für ein Gemälde arrangiert, ergänzen sich eine hellgraue und eine zurückspringende weiße Architekturoberfläche, das Hellblau von Himmel und Kleidung mit dem tiefen Rot der Schuhe und der Nelken auf Balkon oder Brüstung. Bei aller Ausgewogenheit wohnt dem Bild auch etwas Ungeordnetes inne. Lässig lässt das Mädchen die Beine von der Mauer baumeln. Statt eines hübschen Kleides trägt es praktisches Strickwerk und eine aufgekrempelte Hose. Selbst der akkurate Pagenschnitt ist leicht verstrubbelt, ganz im Kontrast zu den glänzend roten Lackschuhen mit weißen Socken. Nicht nur die Augen lachen, sondern auch der geöffnete Mund, in dessen Winkel noch ein Kaugummi aufscheint. Zum rechten Bildrand hin lassen ein Dachüberstand und weiteres Grün die Umgebung erahnen.
Hüttenmeister war 1958 nach Jerusalem gereist, um Hebräisch zu lernen. Hier fotografierte er die Tochter eines deutsch-jüdischen Auswandererpaares aus Velbert in Nordrhein-Westfalen, der Heimatstadt seines Vaters. Per Zufall hatte er eben jene Familie in Jerusalem getroffen. Für Frowald Hüttenmeister, der sich bis heute als Judaist mit den Zeugnissen der Vergangenheit auseinandersetzt, verbinden sich beide Perspektiven in diesem einen Dia zu einer heiteren Erinnerung. Bei jener Begegnung mit der jungen Israelin sei der Spitzname entstanden, den er seitdem im Namen führt. 1958 erklärte er dem Mädchen, „Frowald“ sei der, der das Glück verwalte. Und im gemeinsamen Gespräch wurde daraus, ins Hebräische übertragen, „Gil“.
Julia Männchen
Lebensdaten // life dates: 1939–2018
Beruf // profession: Theologin // theologian
Besuch im Heiligen Land // visit to the Holy Land: ab //as of 1986
Fototyp // photographic manner: didaktisch // didactic
Die langjährige Sammlungskustodin Julia Männchen hat sich nicht nur als Dalman-Biografin einen Namen gemacht. Zudem schlug sie durch Lehrveranstaltungen, durch Sprachkurse für modernes Hebräisch und durch Exkursionen mit Greifswalder Studierenden nach 1990 neu die Brücke zum 'Mutterinstitut', zum "Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaften des Heiligen Landes" in Jerusalem.
Zum Programm eines Jerusalem-Besuchs gehörte für Greifswalder Theolog*innen wie selbstverständlich auch eine Stippvisite in der Äthiopischen Straße 5. Auch Julia Männchen – sie selbst datierte das Bild der Straßenfassade auf 1986 – fand den Weg zum Ort des ersten, von Dalman geleiteten Palästina-Instituts besucht. Dort kam sie mt dem damaligen Besitzer, einem Künstler, ins Gespräch und konnte so auch die Innenräume besichtigen. Vieles fand sie dort unverändert vor, bis hin zu den bleiverglasten Fenstern in den hellen Räumen. Heute ist Männchens Nachlass selbst Teil der Dalman-Sammlung und zum historischen Beleg dafür geworden, wie sich Greifswalder Theolog*innen immer wieder neu dem Erbe Dalmans annähern.
Julia Männchen liest Texte von Gustaf Dalman
- Von einem Sonneaufgang in Jerusalem (aus "Arbeit und Sitte")
- Von der Fotografie im Heiligen Land (aus "100 deutsche Palästina-Bilder")
- Vom Kaffeegenuss bei den Beduin*innen (aus "Arbeit und Sitte")
- Vom wahren Wert der eines Besuchs in der Kulturlandschaft Palästina (aus dem "Palästina-Jahrbuch")
Literatur und Quellen
- Berkemann, Karin, Das gelobte Land der Moderne. Reisefotografien zwischen Aleppo und Alexandria, Berlin 2020.
- Luchterhandt, Manfred/Roemer, Lisa Marie/Suchy, Verena (Hg.), Das unschuldige Auge. Orientbilder in der frühen Fotografie, Katalog, Kunstsammlung der Universität Göttingen, Petersberg 2017.
- Männchen, Julia, Gustaf Dalmans Wirken in der Brüdergemeine, für die Judenmission und an der Universität Leipzig (1855–1902) (Abhandlungen des Deutschen Palästina-Vereins), Wiesbaden 1987 (zugl. Diss.,
Universität Greifswald, 1984). - Männchen, Julia, Gustaf Dalman als Palästinawissenschaftler in Jerusalem und Greifswald (1902–1941) (Abhandlungen des Deutschen Palästina-Vereins 9, 2), Wiesbaden 1994 (zugl. Habil., Universität Greifswald, 1991).
- Rauch, Udo, Heinrich Seeger. Unzucht getrieben mit verdorbenen Subjekten der Großstadt, in: Blattner, Evamarie/Ratzeburg, Wiebke/Rauch, Udo (Hg.), Queer. Geschichten vom Leben, Lieben und Kämpfen (Tübinger Kataloge 111), Tübingen 2022, S. 98–105.