Diskussionen

In dieser neuen Rubrik sammelt das Dalman-Institut nach und nach Beiträge zu den bislang noch wenig beleuchteten Seiten der Geschichte des Instituts und seines Begründers – von den internationalen Bezügen Dalmans und seiner Stipendiaten bis zu Fragen des Antisemitismus und der Queer History.


Problematischer Förderer

Gerhard Kittel (1888–1948) und das Gustaf-Dalman-Institut

von Felix John, Universität Greifswald

Dass das Dalman-Institut 1920 dauerhaft in Greifswald etabliert werden konnte, verdankt sich maßgeblich dem Neutestamentler Gerhard Kittel (1888–1948). Dieser wurde vor allem als Herausgeber des "Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament" bekannt. Heute kommt immer stärker in den Blick, welche problematische Rolle er als Akteur des protestantischen Antisemitismus einnahm und wie er sich innerhalb der NS-'Judenforschung' verstrickte.

Kittel und das Neue Testament

Der ehrgeizige Neutestamentler Gerhard Kittel, Sohn des international renommierten Alttestamentlers Rudolf Kittel, wurde 1921 nach Greifswald auf seine erste Professur berufen. Tonangebend, auch an der dortigen Theologischen Fakultät, war das deutsch-nationale Lager. Im national-protestantischen Netzwerk, in dem er sich in Greifswald bewegte, lehnte man das Weimarer System und den Sozialismus ab, sehnte sich nach einer engen Verquickung von Volk, Staat und Kirche.

Kittel erwarb sich den Ruf eines Spezialisten für die rabbinische Literatur und plädierte für ihre Erforschung, auch in Zusammenarbeit mit jüdischen Gelehrten. Trotz seiner demonstrativen Offenheit gegenüber der jüdischen Tradition kam er über die damals gängige Annahme einer christlichen Überlegenheit nicht hinaus: Schon zur Zeit Jesu sei das Judentum von seinem Wesenskern, der alttestamentlichen Religion, längst abgefallen. So sprach man damals vom 'Spätjudentum'. Es diente als Negativfolie für Jesus und seine Verkündigung. Der Heilsbund sei vom Judentum auf die Kirche übergegangen. Kombinieren ließ sich dieses Modell mit dem – auch in Kittels Netzwerk zirkulierenden – Gedanken, dass gegenwärtig von Jüd:innen, insbesondere modern lebenden, eine Bedrohung für das deutsche Volk ausgehe.

Der Theologe Gerhard Kittel wurde 1921 auf einen neutestamentlichen Lehrstuhl an die Universität Greifswald berufen. Bereits 1926 wechselte er nach Tübingen.

Bild: Gerhard Kittel im Jahr 1940 (Foto: Arthur Gröger, Bild: Universitätsarchiv Tübingen, S 23/1, 626)

Kittel und die 'Judenfrage'

1933, Kittel war bereits nach Tübingen berufen worden, plädierte er in seinem Buch zur 'Judenfrage' für einen Platz des Christentums innerhalb der antisemitischen Bewegung. Eine umfangreiche Tätigkeit im Dienst der NS-'Judenforschung' folgte. Als Mitarbeiter in der "Forschungsabteilung Judenfrage" schrieb der Tübinger Theologe vom Judentum als "Krankheit", die es zu bekämpfen gelte. Am Schauprozess gegen Herschel Grynszpan wirkte er als Gutachter mit. Im selben Jahr war Kittel Ehrengast des 'Führers' beim Nürnberger Reichsparteitag.

Vom Holocaust wollte Kittel erst deutlich später erfahren haben. Nach dem Krieg stellte er seine Arbeit als ausschließlich der Theologie verpflichtet dar und verdrängte seine geistige Mitarbeit am NS-Regime. 1948 starb Kittel – in Kirche und Theologie waren seine Verstrickungen lange kein Thema.

Kittel und Dalman

Kittel kannte den Theologen Gustaf Dalman (1855–1941) bereits als Leipziger Kollegen seines Vaters. Gemeinsam arbeitete man mit dem Philologen Israel Isser Kahan an jüdischen Texten und pflegte den Kontakt zum schwedischen Theologen Nathan Söderblom, der später in Greifswald ehrenpromoviert wurde. Wegen des Ersten Weltkriegs konnte Dalman seine Arbeit am Deutschen Palästina-Institut in Jerusalem nicht fortsetzen. 1915 wurde er auf eine alttestamentliche Professur in Greifswald berufen, wo er 1920 ein Institut für Palästina-Forschung begründete. Doch immer noch befanden sich Stücke der von ihm zusammengetragenen Sammlung in Jerusalem. 1921 konnten viele von ihnen unter schwierigen Umständen nach Greifswald geholt werden – nur die Finanzen fehlten. Zu Dalmans 70. Geburtstag organisierte Kittel daher eine Geldsammlung. Vermutlich versuchte er nicht zuletzt, sich selbst als möglichen künftigen Institutsleiter in Stellung zu bringen. Diese Aktion erbrachte mit über 10.000 Reichsmark den finanziellen Grundstock des Dalman-Instituts.

Welche Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den beiden Wissenschaftlern in theologischen, gesellschaftlichen und politischen Fragen bestand, lässt sich nur ansatzweise rekonstruieren. Unbeschadet der Hochachtung vor Dalman und seiner Arbeit, lehnte Kittel dessen judenmissionarischen Ansatz ab. Ihm schwebte wohl eher vor, Jüd:innen sollten ihre Religion pflegen und am Rande der Gesellschaft leben. Als er sich für die Nutzbarmachung der jüdischen Traditionsliteratur in der neutestamentlichen Exegese aussprach, knüpfte er aber an Dalmans Arbeiten an – etwa zum palästinischen Talmud und palästinischem Midrash als nächster Parallele zur Sprache Jesu. Der bei Kittel vielfach vorkommende antisemitische Topos, die Jüd:innen seien von ihrer wahren Religion abgefallen, ist auch bei Dalman belegt. Dieser diente als Argument gegen die jüdische Einwanderung nach Palästina. Wie Kittel teilte auch Dalman das christliche Überbietungspathos: Erst wenn die Jüd:innen Jesus als den einzigen Palästiner von Weltbedeutung akzeptiert hätten, gehöre ihnen das Land. Der moderne jüdische Zuzug, so befürchtete Dalman, würde den Charakter des Landes gefährden.

Auf einer im Universitätsarchiv Greifswald aufbewahrten Postkarte lässt Kittel 1926 seinen Rostocker Kollegen Friedrich Baumgärtel wissen: Die – heute im Entrée des Lohmeyer-Hauses hängende – Reliefkarte sei in Tübingen zu beziehen, in unbeschrifteter Ausführung mit 10 Reichsmark Rabatt. Das Aufkleben der Ortsschilder eigene sich als studentische Aufgabe im Rahmen einer Seminararbeit.

Bild: Köppel-Karte des Dalman-Instituts im Foyer der Theologischen Fakultät Greifswald (Foto: Dalman-Institut Greifswald)

Der 'christliche' Antisemitismus

Der 'christliche' Antisemitismus war seinerzeit – und allzu lange noch danach – gängige Ansicht. Doch manche Zeitgenoss:innen widersprachen. Einer der Nachfolger Kittels in Greifswald, Ernst Lohmeyer, kritisierte etwa Kittels Buch zur 'Judenfrage' scharf. In einem Brief an den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber legte er Wert auf die Feststellung, "daß nicht alle in den theologischen Fakultäten, auch nicht alle Neutestamentler, Kittels Meinung teilen". Vielmehr müsse das Christen- das Judentum im Herzen tragen. Der Greifswalder Kirchenhistoriker Irmfried Garbe betont heute: Dass Kirche und Theologie sich von Judenmission und Überlegenheitsnarrativ abgewendet haben, ist eine Neuausrichtung christentumsgeschichtlichen Rangs. Hinzuzufügen ist: und eine dauernde Verpflichtung.

 

Beitrag veröffentlicht auf der Homepage des Greifswalder Gustaf-Dalman-Instituts am 16. Februar 2021, Zitationslink:

Literatur

K. Berkemann, Das gelobte Land der Moderne. Deutsche Reisefotografien zwischen Aleppo und Alexandria, Berlin 2020.

L. Bormann/A. Zwiep (Hg.), Auf dem Weg zu einer Biographie Gerhard Kittels, Tübingen voraussichtlich 2021.

M. Gailus, Ein Theologe als geistiger Mittäter. Der Fall des evangelischen Hochschullehrers Gerhard Kittel zeigt exemplarisch christlichen Antisemitismus in der NS-Zeit (https://www.tagesspiegel.de/wissen/nationalsozialismus-ein-theologe-als-geistiger-mittaeter/26601280.html; abgerufen am 2. Februar 2021).

M. Gailus/C. Vollnhals (Hg.), Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und "Judenforscher" Gerhard Kittel, Göttingen 2019.

I. Garbe, Geschichte der Theologischen Fakultät Greifswald 1815-1938, D. Alvermann/K.-H. Spieß (Hg.), Universität und Geschichte. FS zur 550- Jahrfeier der Universität Greifswald 1456-2006 I: Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, 11-91.

H. Junginger, Die Verwissenschaftlichung der "Judenfrage" im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011.

J. Männchen, Gustaf Dalman als Palästinawissenschaftler in Jerusalem und Greifswald. 1902–1941 (ADPV 9/2), Wiesbaden 1993.

Kittel wurde vor allem als Herausgeber des "Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament" bekannt, war aber ebenso aktiv als Rezensent von Fachliteratur. Dieses Exemplar des Levy’schen Neuhebräischen und chaldäischen Wörterbuchs übereignete er der Universitätsbibliothek Greifswald, nachdem er für eine Rezension die Neuauflage erhalten hatte.

Bild: Kittels Exlibris im Greifswalder Exemplars (Foto: Universitätsbibliothek Greifswald)