Jüdisches Artefakt des Monats
In nur 90 Sekunden Lesezeit stellte das Greifswalder Dalman-Institut – zum Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" – 2021 jeden Monat virtuell ein besonderes Sammlungsstück vor.
1700 Jahre in 90 Sekunden
Das jüdische Artefakt des Monats Januar: Aufstand in der Streichholzschachtel
In nur 90 Sekunden Lesezeit stellt das Greifswalder Dalman-Institut – zum Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" – 2021 jeden Monat virtuell ein besonderes Sammlungsstück vor. Das Programm der Stadt Greifswald zum Festjahr kann als Flyer online abgerufen werden.
In der kleinsten Schachtel steckt oft die größte Überraschung: Als erstes "Jüdisches Artefakt des Monats" zeigt das Dalman-Institut eine Münze von 67 nach unserer Zeitrechnung (n.u.Z.). Oder, um den hebräischen Buchstaben auf der Vorderseite zu folgen, aus dem "Jahr 2" (daneben eine Amphore). Bereits ein Jahr zuvor hatte sich der erste Jüdische Aufstand gegen die römische Besatzung aufgelehnt. Entsprechend selbstbewusst trägt die Rückseite der Münze eine Weinranke und den Schriftzug: "Freiheit Zions". Eine Selbständigkeit, die schon kurz darauf enden sollte. Denn 70 n.u.Z. eroberten die Römer erneut Jerusalem, gut drei Jahre später unterlag mit der Festung Masada dann der letzte Rückzugsort der Bewegung. Zwei weitere Aufstände dieser Art sollten bis 135 n.u.Z. folgen, die beide ebenfalls unterlagen.
Die rund 600 historischen Münzen der Dalman-Sammlung wurden in den vergangenen Monaten hervorgeholt, fotografiert, beschrieben und online zugänglich gemacht – in Zusammenarbeit mit der Kustodie der Universität Greifswald und dem Forschungsverbund NUMiD. Bei den Stücken, die der Sammlungsgründer Gustaf Dalman (1855–1941) selbst bestimmt hat, ist oft die Verpackung mindestens ebenso interessant wie der Inhalt. In diesem Fall steckt die oben beschriebene Münze in einer alten Streichholzschachtel. Auf dem Deckel trägt ein Klebezettel, wie vom Rand eines Briefmarkenbogens abgerissen, in Dalmans Handschrift den Hinweis: "Jüd. Aufstandsmünzen. Dubletten", denn im Inneren finden sich gleich zwei fast identische Exemplare. Ursprünglich, wohl im frühen 20. Jahrhundert, lag in der Schachtel ein Fabrikat der Firma "Kaiser". Immerhin handelte es sich um fortschrittliche "Sicherheitshölzer, wie stolz beworben wird: "Entzünden sich nur an präparirten Reibeflächen". Bis heute schützt die recycelte Verpackung in Greifswald zwei Münzen, die auf eine Wegmarke der jüdischen Geschichte verweisen.
Alle Dalman-Münzen sind online auf der zentralen Sammlungsseite der Universität Greifswald zu finden – und erste Stücke können bereits virtuell auf dem Portal "NUMiD" eingesehen werden, darunter auch die Greifswalder Aufstandsmünze (fachkundig beschrieben von den Theologiestudentinnen Marielis Adami und Hannah Siry). In Zusammenarbeit mit NUMiD werden aktuell in Greifswald auch die Münzbestände der Universität und der theologischen Victor-Schultze-Sammlung erfasst.
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Das jüdische Artefakt des Monats Februar: Die Weltreisende
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Der Gründer der Greifswalder Sammlung, der Theologe Gustaf Dalman (1855–1941), war – mit Verlaub – kein Feminist. Auch die leichte Muse blieb dem akribischen Forscher zeitlebens fremd. Dennoch findet sich in seiner Institutsbibliothek ein klassischer Frauenroman. Das Bändchen "Reise einer Wienerin in das heilige Land" spannt in Tagebuchform einen weiten Bogen: von Konstantinopel über Jerusalem bis zum Toten Meer, von dort über Damaskus und Ägypten, mit einem Abstecher nach Italien, wieder zurück nach Österreich. Zunächst erschien das Buch anonym. Erst gut zehn Jahre später gab sie sich Ida Pfeiffer (1797–1858) als Autorin zu erkennen. Die zweifache Mutter und Witwe ging 1842 zum ersten Mal ihrem Fernweh nach. Weitere "Weltreisen" und dazu passende Romane sollten folgen, bis sie in Wien an einem Malariaschub verstarb.
Zu ihrer Zeit war eine alleinreisende Frau, noch dazu in Übersee, eine Ausnahmeerscheinung. Ida Pfeiffer entpuppte sich als ausdauernd und couragiert. Mit großer Neugier beschrieb sie die ihr fremden Kulturen, ohne den Blick einer westeuropäischen Christin konservativer Prägung zu verlieren. Manches idealisierte sie, anderes wertete sie ab, aber sie kritisierte ebenso soziale Missstände. In Palästina bemerkte sie überrascht, wie "nett und rein" das Zimmer bei ihren jüdischen Gastegeber:innen sei. Eingewanderte osteuropäische Jüd:innen fragte sie nach ihren Beweggründen: Das sei "eine große Sehnsucht, die letzten Tage ihres Lebens in der Heimath ihrer Vorältern zuzubringen". Viele dieser Schilderungen liest man heute mit einer Mischung aus Respekt und Kopfschütteln. Gehört ein solches Buch in eine universitäre Sammlung? Vielleicht wird andersherum ein Schuh daraus: Wenn ein kaisertreuer Palästinakundler den Roman einer weltreisenden Biedermeier-Hausfrau in seine Bibliothek aufnehmen konnte, macht diese Spannung unseren Blick auf eine besondere Kulturlandschaft heute erst vollständig.
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Das jüdische Artefakt des Monats März: Die Verrücktenmütze
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2017 schaffte es diese Kopfbedeckung in eine Modeausstellung des New Yorker Museum of Modern Art (MoMa), irgendwo zwischen dem kleinen Schwarzen von Chanel und der goldenen Rolex-Uhr. In den 1960er und 1970er Jahren galt die Stoffkappe als Erkennungsmerkmal für Neu-Israelis. Ihr Name, Kova Tembel, lässt sich wohl frei mit "Verrücktenmütze" übersetzen. Die Herkunft der Kappe mit der breiten Krempe, klassischerweise genäht aus fünf Stoffstreifen, ist umstritten. Vielleicht wurde dafür eine türkische Tradition aufgegriffen und in den 1930er Jahren im britischen Mandatsgebiet Palästina massenhaft produziert. Hier wurde sie rasch populär bei Landarbeitern und Militärs, denn sie war ebenso preisgünstig wie unempfindlich. Dass die Kappe ihre Träger nicht wirklich vorteilhaft kleidet, machte sie später zum Gegenstand vieler Scherze und Karikaturen – bis die "Verrücktenmütze" in den 1980er Jahren langsam aus dem Alltagsleben verschwand.
Das hier gezeigte Mädchen mit der vielsagenden Mütze stammt von einem Kleinbilddia der DDR-Zeit, das heute im Greifswalder Dalman-Institut verwahrt wird. So freundlich strahlt die junge Israelin in die Kamera, dass selbst ihre Zahnspange aufblitzt. Ihre wilden Locken und die zerknitterte Hemdbluse sprechen für eine unbändige Lebenslust. Die Vorlage für diese Fotografie findet sich im schwedischen Kinderbuch "Helgas Reise", das in den 1960er Jahren auch in einer deutschen Übersetzung erhältlich war. Darin fliegt das Mädchen Helga nach Israel, um dort die historischen Stätten zu besuchen. Im Buch wird wiederholt ihre Begegnung mit Kindern abgebildet – vom Beduinenjungen in der Wüste bis zur Mädchenclique in Akko. Diese ebenso charmante wie klischeebeladene Fotogeschichte gelangte wohl mit dem Nachlass eines Greifswalder Pfarrers in die Dalman-Sammlung. Er mag damit in den 1960er Jahren diverse Jugendgruppen mit Diaabenden beglückt und ihr Bild von Israel geprägt haben.
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Das jüdische Artefakt des Monats April: Die hebräische Optima
Das jüdische Artefakt des Monats April: Die hebräische Optima
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Glaubt man den Anekdoten der älteren Kollegen, dann haben sich an dieser "Optima 00126" filmreife Szenen abgespielt: wie in den besten Zeiten von Simone de Beauvoir, als die französische Philosophin ihre Texte zwischen halbleeren Kaffeetassen und einem überquellenden Aschenbecher in ihre mechanische Schreibmaschine tippte. Auch in Greifswald war die Optima an der Theologischen Fakultät über Jahrzehnte im Dauerbetrieb. Julia Männchen, die spätere Kustodin der Dalman-Sammlung, hat hier – rauchend und reichlich schwarzen Kaffee trinkend – ungezählte Texte für den Hebräisch-Unterricht oder zu ihren palästinakundlichen Forschungen in akkurate Form gebracht.
Die mechanische Schreibmaschine verfügt über vier braune Tastenreihen mit weißen hebräischen Schriftzeichen. Dabei lassen sich die Typen ebenso wie die Tasten austauschen. In der Dalman-Sammlung ist ein kleiner Umschlag überliefert – mit losen hebräischen Tasten und UNION-Typen. Über den Poststempel lässt sich dieser Reservesatz auf das Jahr 1957 datieren. Doch er kam nie zum Einsatz: Das Original tat klaglos seinen Dienst, bis es wohl um 1990 erst durch eine elektronische Büromaschine und später durch einen Computer ersetzt wurde. Heute wird es in der Sammlung als Erinnerung daran aufbewahrt, dass auch zu DDR-Zeiten die hebräische Sprache in Greifswald geschrieben und gepflegt wurde. Und nicht nur jungen Besucher:innen bereitet es Freude, hier ihren Namen in hebräischen Lettern zu tippen.
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Das jüdische Artefakt des Monats Mai: Die Frau hinter der Kamera
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Unter den rund 20.000 Fotografien der Dalman-Sammlung finden sich mit großer Sicherheit auch Aufnahmen, für die Frauen hinter der Kamera standen. Immerhin hatte schon Kaiserin Auguste Viktoria ihren Gatten Wilhelm II. während seiner Heiliglandfahrt 1898 auf Film gebannt. Um 1900 nahm auch die Werbung die weibliche Kundschaft gezielt in den Blick. Aber (ob beruflich oder privat, wissenschaftlich oder als Hobby) nur selten lassen sich Fotografinnen der Jahrhundertwende mit Namen greifen. Eine dieser Ausnahmen hat sich in Greifswald erhalten: Die Fotografie zeigt eine Szene auf dem Friedhof im syrischen Aleppo – Jüd:innen haben sich zur Totenklage um ein Grab versammelt.
Im August 1899 entstand diese Aufnahme auf einer gemeinsamen Erkundungstour des Theologen Gustaf Dalman (1855–1941) mit Elisabeth Bender (1875–1968). Zur Fotografin stand er während seiner ersten Palästina-Reise 1899 in Kontakt und tauschte sich mit ihr z. B. für seine Liedersammlung „Palästinischer Diwan“ (1901) aus. Als Tochter eines deutschen Crischona-Missionars arbeitete Bender (später verheiratet mit dem Missionar Jakob Künzler) damals als Privatlehrerin bei Rev. W. Melville Christie, bei dem Dalman zu Gast war. Als der deutsche Theologe die Aufnahme 20 Jahre später bei einem ethnologischen Aufsatz verwendete, konstatierte er: "Öde, unsagbar öde sind die Friedhöfe von Aleppo", um anschließend die dortigen Trauerrituale zu schildern – und den Namen der Fotografin zu vermerken.
1700 Jahre in 90 Sekunden
Das jüdische Artefakt des Monats Juni: Durch die Blume
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In einem Punkt waren sich jüdische und christliche Reisende um 1900 sehr ähnlich: Alles, wirklich alles, was im Heiligen Land seinen Ursprung hatte, taugte zum Souvenir. Zu den Klassikern gehörten Grußkarten mit einer gepressten Blume aus Jerusalem oder Bethlehem. Damals lebten vor Ort ganze Dörfer davon, solche Erinnerungsstücke zu fabrizieren. Aber es gab auch die andere, die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Flora Palästinas. Der Greifswalder Sammlungsbegründer Gustaf Dalman (1855–1941), der als Theologe diese Kulturlandschaft in all ihren Facetten erforschte, arbeitete dafür eng zusammen mit John E. Dinsmore (1862–1941), einem Jerusalemer Botaniker amerikanischer Herkunft. Gemeinsam erstellten sie eine genaue Klassifizierung der Pflanzenwelt von Palästina, die erste ihrer Art.
In der Greifswalder Sammlung haben sich rund 2000 Blätter eines Herbariums erhalten, in dem Dalman gepresste und getrocknete Pflanzen aufbewahrte – alles sorgfältig beschriftet nach der eigenen Systematik. Manches hatte er dafür selbst gesammelt, anderes dazugekauft. Selbst eigentlich touristisch aufbereitete Stücke wurden ins Konzept eingebunden. Heute sind diese Stücke nicht nur ein begehrtes Forschungsobjekt für Botaniker:innen, sie bieten auch unerwarteten Lesestoff. Dalman nutzte immer wieder "Altpapier", um darin seine Funde aufzubewahren. Die Bandbreite reicht von der ungestempelten Promotionsurkunde bis zum Zeitungsausschnitt. Darunter finden sich etwa zwei Seiten aus "Die Flotte", einer nationalistischen Monatsschrift des Deutschen Flottenvereins, mit dem sich Dalman 1908 über die Entwicklungen in der Heimat auf dem Laufenden hielt. Heute stechen eher die weniger politischen Anzeigen ins Auge: Vom "Weltdetektiv" bis zum französischen Kräuterlikör fiel die Warenwelt hier deutlich internationaler aus. Am Ende wollten doch alle mit einem Bartwuchsbeförderer ihre "Manneswürde" sprießen lassen.
1700 Jahre in 90 Sekunden
Das jüdische Artefakt des Monats Juli: Stand der Technik
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Wer als israelischer Architekt etwas auf sich hielt, der führte eine Ausbildung am Technion von Haifa im Lebenslauf. Diese Technische Universität, deren Gründung von deutschen Jüd:innen maßgeblich unterstützt wurde, gilt als die älteste Hochschule Israels. Mit den Arbeiten für das Hauptgebäude konnte man noch vor dem Ersten Weltkrieg beginnen, die ersten Kurse starteten hier 1924. So machte es für deutsche Jüd:innen um 1930 doppelt Sinn, dieses Motiv von einer Palästinareise nach Hause zu senden: Der Bau stand für die enge Verbindung beider Länder und den Stolz auf die dort entstehende jüdische Infrastruktur. Die hier gezeigte, 1934 produzierte Postkarte "Haifa. Das jüdische Polytechnikum" ist Teil eines kleinen Schubers der Serie "Das Heilige Land". Stolz bewarb die Münchener Firma Uvachrom ihr Produkt als "Naturfarbenphotographien", hergestellt nach einem eigenen technischen Verfahren: die Uvatypie.
Während die meisten anderen Uvachrom-Serien Mitte der 1930er Jahre auf christliche Käufer*innen zielten, ist der hier gezeigte Schuber deutlich auf ein jüdisches Publikum hin ausgerichtet: Die Motivpalette reicht von Prophetengräbern über historische Synagogen bis hin zu den ersten Spuren des späteren Staates Israel – darunter eben jenes Hauptgebäude des Technions. Noch 1934 schien Uvachrom mit einer lohnenden Käufer:innenschicht dafür zu rechnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem die deutschen Produktionsstätten ausgebombt worden waren, stellte man in München die Uvatypie ein. Das inzwischen "alt" genannte Hauptgebäude des Technions hingegen, historischer Kern der florierenden Hochschule, zählt bis heute zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten von Haifa.
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Das jüdische Artefakt des Monats August: Der Haifisch und sein Zahn
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Es war einer jener Tage, an denen man besser gelaunt von der Arbeit nach Hause kommt: Beim Räumen und Fotografieren in der Dalman-Sammlung stieß die Autorin dieser Zeilen auf einen der wenigen noch unausgepackten Pappkartons aus den 1920er Jahren. Darin, wie bei einer russischen Matroschka, wieder kleinere Dosen und Kästen. Eine Blechschatulle, eigentlich für Pfefferminzpastillen vorgesehen, birgt Muscheln aus Beirut. Eine Streichholzschachtel verwahrt Schneckenhäuser aus En-Gedi.
In einer rechteckigen Pappkiste, in der Glasplattendias aus dem Heiligen Land geliefert wurden, ruht nun (fein säuberlich beschriftet und nummeriert) ein Haifischzahn. Den Fundort für das Relikt, den lieferte der Theologe Gustaf Dalman gleich mit: bei Jerusalem. Was genau den Palästinakundler an diesem Stück interessiert hat, muss offen bleiben. Vielleicht wollte er schlicht die ganze Tierwelt dieser Kulturlandschaft so vollständig wie möglich abbilden.
1700 Jahre in 90 Sekunden
Das jüdische Artefakt des Monats September: Sechs Handschuhe und ein Sorgenkind
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Wenn Museumsleute die Handschuhe auspacken, geht es um etwas sehr Wichtiges oder etwas sehr Empfindliches – in diesem Fall um beides. An der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, wo in den vergangenen Monaten die historischen Filmnegative der Dalman-Sammlung restauriert und dokumentiert wurden, gehörten Handschuhe zur Grundausstattung (natürlich neben der coronabedingten Maske). Über rund 100 Jahre hinweg hatten sich die Greifswalder Bildträger, die Menschen und Landschaften aus Palästina zeigen, eingerollt und gaben so ihre Motive nicht mehr frei.
Auf der hier gezeigten Fotografie legen Studierende, unter der fachkundiger Anleitung einer Restauratorin, gerade behutsam stark versprödete Negative in eine Box. In einer zweiten Schicht wird heißes Wasser hinzugegeben, dessen Dampf die Filme langsam wieder biegsam macht. So können sie später für rund drei Monate gepresst, anschließend gescannt und so erstmals wieder der Forschung zugänglich gemacht werden. Dass die hilfreiche Kiste ausgerechnet aus Zedernholz gefertigt wurde – die Bibel kennt die Zedern des Libanon als begehrten Baustoff, u. a. für den Tempel des Salomo – hätte vielleicht selbst dem ernst gestimmten Gustaf Dalman ein Lächeln abringen können.
Die ganze Geschichte hinter den Bildern finden Interessierte im September bei einer "Ausstellung to go" in der Stadtbücherei Greifswald (und online beim Dalman-Institut).
1700 Jahre in 90 Sekunden
Das jüdische Artefakt des Monats Oktober: "nicht in Feindeshand"
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Seien wir ehrlich: Jede Karte führt irgendwen irgendwohin, und nicht immer gefällt uns heute das Ziel, für das sie einmal erstellt wurden. Denn oft waren es ganz handfeste strategische, sprich militärische Gründe, ein Gebiet nach allen Regeln der Kunst zu vermessen. Unter den Hunderten von Karten, die sich im Dalman-Institut in Greifswald erhalten haben, finden sich auch solche mit einer besonderen Aufschrift: "Darf nicht in Feindeshand gelangen" ist auf den oberen Rand gedruckt. Und bei den Wegen wird genau angegeben, ob ein Lastkraftwagen dort nach einem Regen gut durchkommen würde. Irgendwoher sollte der Nachschub ja im Kriegsfall kommen.
Einer der größten Bucherfolge des Theologen Gustaf Dalman war die Veröffentlichung "100 deutsche Fliegerbilder aus Palästina" von 1925. Damit führte er Luftbilder, die vom deutschen Militär in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs erstellt worden waren, einem ganz anderen, einem wissenschaftlichen Zweck zu. Er wertete militärische und touristische, deutsche und englische Karten aus – in manchen Fällen legte er auf die Fliegerbilder ein Stück Transparentpapier, um die Flussverläufe und Bergrücken nachzuziehen. Heute wären diese Kartenvorlagen strategisch nicht mehr zu gebrauchen, zu sehr hat sich die Region in den letzten 100 Jahren verändert. Und genau darin liegt jetzt ihr besonderer dokumentarischer Wert, ganz friedlich.
1700 Jahre in 90 Sekunden
Das jüdische Artefakt des Monats November: Der Manna-Schwindel
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Wenn der Theologe Gustaf Dalman selbst einkaufen ging, dann meist im Auftrag der Wissenschaft: 1921 war er auf dem Markt Jerusalem einem biblischen Wunder auf der Spur. Die Zeitungen schrieben von einer reichen Manna-Ernte in Palästina. Im Alten Testament ist zu lesen, wie dieses "Himmelsbrot" einst das Volk Israel während seiner Wanderung durch die Wüste ernährte. Jetzt sei diese süße Speise wieder so reichlich vorhanden, so die Berichte um 1920, dass man es bis nach Europa exportieren könne. Kurzum, ein Wunder sei zurück im Heiligen Land.
Dalman ging solchen Dingen gerne auf den Grund. Mit der Akribie des Forschers fragte er sich, wie er später in einem kurzen Beitrag im Palästinajahrbuch darlegte, durch die Altstadt von Jerusalem. Nur an wenigen Stellen konnten ihm die Händler etwas unter dem Namen "Manna" anbieten: kleine braune gepresste Stücke. Und diese seien, so die Verkäufer, zudem aus Europa importiert. Dalman vermutete dahinter die Cassia Fistual (Röhren-Kastie), deren süß-klebrige Früchte man getrocknet auch als Abführmittel nahm. Mit dem biblischen "Himmelsbrot" habe dies, so Dalman wenig zu tun. Ganz zu schweigen davon, dass man davon in Palästina Unmengen zur Verfügung habe. Nachdem er dieses Rätsel geknackt hatte, ließ er sich noch einige Stücke des "Manna" von einem Jerusalemer Apotheker schenken, etikettierte sie, verpasste ihr eine Inventarnummer und ordnete sie in seine Greifswalder Sammlung ein, wo sie bis heute aufbewahrt wird.
1700 Jahre in 90 Sekunden
Das jüdische Artefakt des Monats Dezember: Bethlehem lässt grüßen
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Ein bisschen Toulouse-Lautrec, ein bisschen Feininger und eine gute Prise Fernweh – auf dieser Pastellkreidezeichnung des Dalman-Instituts wird Bethlehem in Szene gesetzt. Für das Motiv wählt der Zeichner kräftige Erdtöne, die er mit gelben, blauen und weißen Akzenten versieht. Eine verschleierte Frau läuft eilt einen weiten, sonst menschenleeren Platz mit Brunnen, der von hohen historischen Mauern hinterfangen und von einem Himmel überfangen wird, an dem sich bereits dunkle Wolken zusammenballen. Fast kann man die Hitze, die Spannung vor dem drohenden Gewitter mit Händen greifen.
Diese Zeichnung stammt vom Geologen und Paläontologen Otto Jaekel, der bis 1928 in Greifswald eine Professur innehatte. In der Geologischen Sammlung der Greifswalder Universität haben sich weitere lehrhafte Zeichnungen und Gemälde von ihm mit Motiven aus der Natur erhalten. Hier zeigt Jaekel detailgetreu den Vorplatz der Geburtskirche von Bethlehem, die den historischen Geburtsort Jesu markieren soll. Auch die in der Bildmitte dargestellte Frau trägt den für die Stadt typischen hohen weißen Kopfschleier. Ob Jaekel diese Szene vor Ort einfangen hat und sie dem Palästina-Institut in Greifswald widmete oder ob er sie aus der Ferne nach Vorlagen der Dalman-Sammlung fertigte, muss offenbleiben. Aber bis heute transportiert sie eine flirrende Bethlehem-Stimmung jenseits aller westeuropäischen Winterwunderland-Klischees.