SS 2012
Eine neue Kirche wird geboren. Perspektiven für junge Theologinnen und Theologen in der Nordkirche
Bischof Dr. Hans-Jürgen Arbomeit
Pfingsten 2012 wird die Evangelisch-Lutheri¬sche Kirche in Norddeutschland gebildet. Hierzu schließen sich die bisherige Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburgs (ELLM), die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche (NEK) und die Pom¬mersche Evangelische Kirche (PEK) zu einer Kirche zusammen. Schon im Kindergottesdienst lernen die Kinder: Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche. Pfing¬sten 2012 wird dies in einer besonderen Hinsicht Realität. Drei bisher selbständige Landeskirchen vereinen sich und bilden gemeinsam eine neue. In der Tat ist dies ein ganz außerordentlicher Vorgang. Großes, auch mediales Interesse ist der Kirchengründung sich¬er. Ein ganztägiges Fest am Pfingstsonntag 2012 wird in Ratzeburg, einem Symbolort für die Nordkirche, den Beginn der Nordkirche einläuten.
Ratzeburg ist deswegen ein besonders signifikanter Ort für die Nordkirche, weil sich in diesem Städtchen Ost und West begegnen. Das Gebiet der Stadt Ratzeburg gehört zur Nordelbischen Evangelisch-Luther¬ischen Kirche, die Domhalbinsel dagegen zur Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs. Das war auch in den 40 Jahren der Deutschen Teilung so, auch wenn die Domhalbinsel seit dieser Zeit kommissarisch unter nordelbischer kirchlicher Aufsicht steht. Seit 1997 ist auf der Domhalbinsel auch das gemeinsame Pastoralkolleg der Nordelbischen und der Pommerschen Kirche zu Hause. In Ratzeburg kommen die kirchliche westliche Tradition Deutschlands und die kirchliche östliche Tradition Deutschlands zusammen. Deswegen ist die Situation Ratzeburgs typisch für eine neue Kirche, in der sich zwei kleine östliche und eine große westliche Landeskirche zu einer gemein-samen Landeskirche zusammenschließen.
Was geschieht mit der Nordkirchengründung? Spielt dabei auch Theologie eine Rolle? Was bedeutet die Nordkirche praktisch für heute sich in der Ausbildung befindende junge Theologinnen und Theologen?
I. Nur einmal in hundert Jahren – ein Ereignis kirchengeschichtlichen Ausmaßes
Die deutsche Situation ist weltweit und in ökumenischer Hinsicht eine Besonderheit. Bei uns ist jede Landeskirche eine autonome Kirche, die nur durch freiwillige Entscheidung sich kirchlichen Zusammenschlüssen – wie auch der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) – anschließt. Salopp formuliert könnte man sagen: In Deutschland spielt die Musik bei den Landeskirchen. Dabei sind zwei Ebenen für die Gestaltung kirchlichen Lebens ausschlaggebend: Die örtliche Kirchengemeinde und die Landeskirche, nicht aber die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), auch nicht die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) oder die Union Evangelischer Kirchen (UEK), die die unierte Tradition innerhalb der EKD pflegt. Von diesen gliedkirchlichen Zusammenschlüssen hat zweifellos die VELKD den höchsten Grad der die landeskirchliche Autonomie übersteigenden Verbindlichkeit erreicht. Wer kein Kirchen-Insider ist, kennt indes neben der EKD andere gliedkirchliche Zusammenschlüsse so gut wie nicht. Der Öffentlichkeit und den Medien ist die besondere Situation der deutschen evangelischen Kirchen in der Regel nicht bewusst.
In anderen Ländern organisiert sich dagegen die evangelische Kirche als nationale Kirche (z.B. in Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark, Polen). Die entscheidende Ebene ist hier immer die nationale Ebene. Dort wird die Kirche regiert und dort werden Kirchengesetze erlassen. Im Konfliktfall kann der nationale Bischof in der einzelnen Diözese intervenieren. Das kirchliche Machtzentrum ist auf der nationalen Ebene zu lokalisieren. Nur in Deutschland, aufgrund historischer Besonderheiten, liegt es in der Landeskirche. Auf diesem Hintergrund wird deutlich, warum es
gerade den kleinen Landeskirchen Mecklenburg und Pommern so schwer gefallen ist, diese Souveränität einer selbständigen Landeskirche aufzugeben. Dazu kommt, dass die Pommern – wie ich es auszudrücken pflege – eine „vernarbte Identität“ mit sich tragen. Durch den Zweiten Weltkrieg wurde aus einer einstmals bedeutenden preußischen und deutschen Provinz ein „Nichts“. Aus dem nun polnischen Teil Pommerns wurden alle Deutschstämmigen vertrieben und der deutsch gebliebene Teil Pommerns, Vorpommern, lag in der DDR. Hier aber durfte man gar nicht mehr von Pommern reden, denn das wurde gleich als Revanchis¬mus verhetzt. Auch die Pommersche Evangelische Kirche wurde gezwungen, sich in „Evangelische Landeskirche Greifswald“ umzubenennen. Aufgrund seiner Kleinheit konnte auch nach der friedlichen Revolution Vorpommern kein eigenes Bundesland bilden, sondern erschien lediglich mit Bindestrich ver-bunden als Beigabe zu Mecklenburg. Es gibt damit in Deutschland Pommern noch, als Vorpommern nämlich und mit einer vernarbten Identität. Hier leben selbst-bewusste und die pommersche Tradition lebendig in sich tragende Christenmenschen in den Grenzen der vormaligen pommerschen Provinz auf deutschen Boden, also in Vorpommern. Das vormalige Herz Pom¬merns, die Stadt Stettin, und seine Kraft und Tiefe, nämlich Hinterpommern, gingen dagegen verloren.
Durch den Lauf der Geschichte wurde aus einer bedeutenden Kirchenprovinz der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union mit 1,93 Mio. Gemein-degliedern im Jahre 1939 bis heute eine kleine Landeskirche mit ca. 93.000 Gemeindegliedern. Als ich im Jahre 2001 Bischof wurde und mich dann in die Lage eingefunden hatte, erschien mir die Kraft, die aufgewandt werden muss, um diese Kirche zu leiten und zu verwalten unverhältnismäßig. Ich ließ durch das Kirchenamt der EKD ein Gutachten zum Leitungs- und Verwaltungsaufwand erstellen, das meine Vermutung vollauf bestätigte. Trotz Überanstrengung der Verantwortlichen (sowohl der Ehren- wie auch der Hauptamtlichen) ist der Aufwand, der für Leitung und Verwaltung in der Pommerschen Kirche pro Gemeindeglied getrieben werden muss, wesentlich höher als in größeren Landeskirchen. Nach organisationstheoretischen und betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten rentiert sich ein eigenständiger Leitungs- und Verwaltungsaufwand erst bei einer Landeskirche, die eine Größenordnung von mindestens 1 Mio. Gemeindegliedern aufweist. Die Aufgabe, die sich uns bei der Suche nach der angemessenen Kirchengestalt stellte, war es also, den Kräfte- und den Finanzaufwand für Leitung und Verwaltung zu reduzieren, ohne das gewachsene Selbstbewusstsein zu verletzen und ohne die Möglichkeit zu minimieren, geistliche Lei¬tung in Pommern weiterhin vorkommen zu lassen.
Verhandlungen, Berechnungen und Gutachten erga¬ben, dass dies nicht mit einer Fusion mit der auch relativ kleinen Mecklenburgischen Landeskirche, auch nicht durch Anschluss an die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz (EKBO) geschehen konnte, sondern nur durch Bildung der Nordkirche, die auch Nordelbien einschließt. Eine landeskirchliche Partnerschaft seit dem Ende der 40er Jahre zwischen Nordelbien (das damals noch im Entstehen begriffen war), seinen Gemeinden und der Pommerschen Landeskirche und ihren Gemeinden war eine gute Basis, auf der man aufbauen konnte. Ein Kooperationsvertrag zwischen Nordelbien, Mecklen¬burg und Pommern aus dem Jahre 2000 bildete einen Zwischenschritt, der nun mutig fortgesetzt werden musste. In gewisser Weise wird mit der Nordkirche
– endlich – die Konsequenz aus dem Resultat des Zweiten Weltkrieges bezogen.
Manch einer wollte die notwendigen Beschlüsse, weil sie so wehtun, noch herausschieben. Ich habe vehement dafür votiert, diese Entscheidungen nun zu fällen, denn jetzt konnten wir noch mitbestimmen, was werden soll. Wir haben alle Verhandlungen in paritätisch besetzten Kommissionen und damit auf Augenhöhe führen können. Und wir haben mit der Nordkirche die für Vorpommern angemessene Lösung, in einem größeren kirchlichen Ganzen einen neuen Zusammenhang zu finden, gewählt.
Sechs Kriterien haben uns bei dem Weg in die Nord¬kirche vor allen Dingen geleitet:
1. Das Grundkriterium war: Wo gibt es einen gemeinsamen Gestaltungsraum, der auch nach einem Zusammenschluss ein weiteres Zusammenwachsen ermöglicht? Dieser Gestaltungsraum muss durch Geschichte, Kultur, Sprache, politische Verhältnisse und Infrastruktur gegeben sein. Natürlich können einzelne dieser Indikatoren auch als Argument eines in eine andere Richtung gehenden Gestaltungsraums genutzt werden, in der Summe treffen sie alle allerdings nur auf die Nordkirche zu.
2. In diesem größeren Ganzen sollte dann auch eine eigenständige weitere Entwicklung des pommerschen Kirchengebiets möglich sein. Hier erschien die föderal ausgelegte Verfassung der Nordelbischen Kirche, die den einzelnen, sehr großen Kirchenkreisen eine rela¬tive Eigenständigkeit gewährleistet, anregend und konnte die Basis für die Erarbeitung einer neuen Kirchenverfassung für die Nordkirche bilden.
3. Die Kirchenfusion sollte zu möglichst nachhaltigen Strukturen führen und nicht schon in absehbarer Zeit weitere Nachsteuerungen nötig machen. Deswegen war ein Zusammenschluss mit Teilnahme der Nordelbischen Kirche notwendig. Alle anderen Lösungen wären zu kurz ausgelegt gewesen. Es besteht in Pom¬mern eine Notwendigkeit, das Netz von Kirchengemeinden und ihnen zugeordneten Pfarrstellen nicht noch weitmaschiger zu gestalten, als dies in der Vergangenheit schon notwendig geworden ist.
4. Die Finanzierung der neuen Kirche lebt von Solidarität. Die Nordelbische Kirche ist bereit, auch durch Transfer von Kirchensteuereinnahmen zur kirchlichen Arbeit im Osten beizutragen.
5. Eine größere Kirche, die eine erhebliche Weite unterschiedlicher Erfahrungen, Lebensbedingungen und auch inhaltlicher Positionen in sich birgt, spiegelt eher die Vielfalt der Kulturen und Lebensbedingungen einer pluralistischen Gesellschaft. Dies ist aber notwendig, um in einer solchen Gesellschaft öffentliche Wirkung zu entfalten und den kirchlichen Auftrag zu erfüllen.
6. Die neue Kirche ist sich bewusst, dass der kirchliche Auftrag unter den Bedingungen der Gegenwart nur als einladende Kirche wahrgenommen werden kann. Sie ist insgesamt, nicht nur im Gebiet der beiden ostdeutschen Landeskirchen von Mitgliederrückgang gekennzeichnet. Sie weiß aber auch um die Schwierigkeiten, die sich dabei stellen. Wie kann missioniert werden, ohne vereinnahmend zu erscheinen? Wie kann zu Glauben und Taufe eingeladen werden, ohne übergriffig oder drängend zu wirken?
Eine Kirche im Angesicht der Gegenwart sollte also diesen Kriterien genügen. Dabei sollte sie nicht der bloße Spiegel der pluralistischen Gesellschaft sein. Aber sie muss mit ihrer Botschaft im Dialog mit der Weite der gesamten Gesellschaft stehen, sonst wird sie sich zu einer Nischenkirche entwickeln. Volkskirche zu sein in einer nachvolkskirchlichen Zeit (in der nicht mehr die Mehrheit einer Gesellschaft Kirchenmit-glied ist) hängt ab von der Weite des Denkens, das sich in einer Volkskirche findet. Dazu aber braucht die Kirche Theologie. Die Kirche muss die Weite der Welt und die Verschiedenheit ihrer Kulturen kennen, zum Beispiel die Unterschiedlichkeit des Lebens in Stadt und Land. Zwar ist Vorpommern durchgehend ländlich strukturiert und gilt etwa nach den Förderrichtlinien der EU mit Ausnahme der Städte Stralsund und Greifswald als ländliches Gebiet, wer aber Leitungsverantwortung auch auf dem Lande wahrnehmen will, muss die Stadt kennen. Um Vorteile und Nachteile ländlicher Strukturen einschätzen zu können, muss man städtisches Leben und städtische Strukturen als denkbare Alternative im Blick haben. Auch wenn es mehr als 20 Jahre nach der friedlichen Revolution und der daraus folgenden Wende in Deutschland noch wahrnehmbare unterschiedliche Lebensbedingungen und Kulturen in Ost und West gibt, ist dieses Land doch auf einem gemeinsamen Weg und wächst immer stärker zusammen. Niemand kann Pastorin oder Pas¬tor sein in einem Teil des Landes, die oder der nicht zumindest etwas erfahren hat von anderen Lebenslagen und ihrer Geschichte.
All diese Überlegungen zeigen: Die Nordkirchenbildung ist notwendig und sie ist ein Ereignis kirchengeschichtlichen Ausmaßes. Sie ist durchaus nicht alternativlos, denn theoretisch wären auch andere Entwicklungen oder Zusammenschlüsse denkbar. Sie führt aber die kirchliche Struktur in der Übereinstimmung mit staatlichen Strukturen (so in den drei Bundesländern Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern) in einen Gestaltungsraum, der nach allem, was wir wissen, lange existieren wird. Vielleicht wird es sogar in den nächsten Jahrzehnten in demselben Gestaltungsraum zur Herausbildung nur einer staatlichen Struktur, eines Bundeslandes, nämlich des so genannten Nordstaates kommen. Nach menschlichem Ermessen wird es vor einer Frist von etwa hundert Jahren keine weitere, radikale Veränderung der landeskirchlichen Grenzen geben müssen. Eher werden in anderen Bundesländern und Kirchen weitere Fusionen die Reihe der bisher durchgeführten Kirchenfusionen fortsetzen (z.B. in Niedersachsen, in Hessen, in Westfalen und Lippe). In der Nordkirche „wächst nicht nur zusammen, was zusammen gehört“ (das war die Formel Willy Brandts für die deutsche Vereinigung), sondern in ihr wächst auch zusammen, „was zusammen gehören will“ (so hat Peter Cornehl diese Formel verändert). Zu den Gründen des Zusammengehörenwollens gehört auch die theologische Perspektive.
II. Barmen als lutherisches Bekenntnis
Alle drei fusionierenden Kirchen sind Kirchen lutherischen Bekenntnisses. In Nordelbien und Pommern war der Anteil Johannes Bugenhagens an der Reformation ausschlaggebend. Auf diesem gemeinsamen theologischen Grund baut nun die Nordkirche weiter auf. Erfahrungen, die im gesamten Bereich in der Diktatur des Nationalsozialismus und im Osten in einer weiteren, kommunistischen Diktatur gemacht worden sind, sind noch lebendig und kommen dazu. Die Kirche in Ostdeutschland musste sich jahrzehntelang gegen ein atheistisches System behaupten. Dabei hat sie gelernt, worauf es ankommt. In einer Situation, in der Staat und Gesellschaft sich zu Gott und Kirche abwehrend und diskriminierend verhielten, hat sich im Osten eine Mentalität des „Dennoch“ entwickelt, die es sich von der Staatsmacht nicht vorschreiben lässt, wie kirchlicherseits zu denken, zu glauben und zu han¬deln ist. Zahlenmäßig in die Minderheitensituation zu geraten und doch für das Ganze zu denken, ist eine Haltung, die die Kirchen in der DDR über Jahrzehnte haben lernen müssen.
Nationalsozialistische und kommunistische Unterdrückung hat die Wahrheit der folgenden Sätze des Apostel Paulus aufs Neue erfahren lassen: „Denn wir wissen, dass Leid lehrt, standhaft zu bleiben. Die Standhaftigkeit lehrt, sich zu bewähren. Die Bewährung lehrt zu hoffen. Aber die Hoffnung macht uns nicht zum Gespött.“ (Röm 5,3b-5a Basisbibel). Die Drucksituationen der Kirche im 20. Jahrhundert hat letztlich die Hoffnung genährt. Der Glaube wurde herausgefordert und ist – wenn er nicht gescheitert ist; und viele haben die Kirche verlassen – an den Herausforderungen gewachsen. Indem sich die Theologische Erklärung von Barmen 1934 geweigert hat, in der völkischen Erneuerung durch Adolf Hitler ein Offenbarungshandeln Gottes zu sehen, wie es damals von der Irrlehre der „Deutschen Christen“ nahe gelegt wurde, so weigerten sich die Kirchen in der DDR, im Gefolge von Barmen „dem ideologischen Anspruch des Marxismus-Leninismus“ zu folgen und ihn als „das einzig wahre, gültige und abschließende Gesamtverständnis der Wirklichkeit“ anzuerkennen . Dagegen betont die erste Barmer These: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“
Wenn sich eine Kirche in die Weite und Unübersichtlichkeit der pluralistischen Gesellschaft hineinbegibt, muss sie selber einen Standpunkt haben. Die Nordkirche hat diesen eindeutig bezogen auf dem Fundament der Heiligen Schrift im Hause des Lutherischen Verständnisses von Kirche, Gott und Welt, beleuchtet durch die Erkenntnisse, wie sie sich in der Barmer Theologischen Erklärung niedergeschlagen haben. Mit Luther und Barmen ist dies eine Christuszentrierung, die in aller Unübersichtlichkeit Orientierung schenkt. Christen sind keine Fundamentalisten, die sich an ein verbal inspiriertes Wort Gottes klammern, sondern Christen sind berührt, bewegt und verwandelt durch Jesus Christus. Es gibt nichts in unserem Glauben und Denken, das nicht mit ihm zu tun hätte, auf das nicht durch Jesus Christus ein anderes Licht fällt.
III. Praktisch
Im Durchschnitt der letzten 10 Jahre, seit dem ich Bischof der Pommerschen Evangelischen Kirche bin, hat die Pommersche Evangelische Kirche pro Jahr drei bis vier junge Pastorinnen und Pastoren in den pfarramtlichen Probedienst übernommen. Das ist bei 120 Pfarrstellen eine durchaus realistische Zahl, die auf lange Zeit eine Versorgung der Pfarrstellen ermöglicht.
Trotzdem ist Pommern in der Vergangenheit auf Aufnahme von Pastorinnen und Pastoren aus anderen Landeskirchen angewiesen gewesen. Das ist auch gut so, denn wir brauchen die Begegnung von Erfahrungen, die in Pommern zu machen sind, und Erfahrungen aus anderen Kontexten. Mit der Nordkirchengründung treten in den äußeren Bedingungen einige relevante Veränderungen ein. Trotzdem wird es auch in Zukunft die Aufgabe der in besonderer Weise für den Bereich des Pommerschen Kirchengebiets Sorgetragenden sein, zu helfen, dass bei der Vielzahl der Pfarrstel-len, die im Nordkirchengebiet zu besetzen sind, die in Pommern nicht hinten herunterfallen. Unser Landstrich ist liebenswert und in mancherlei Hinsicht et-was Besonderes. Die Liebe zur Heimat bei den Einheimischen ist stark. Andererseits sind unzweifelhaft die Arbeitsbedingungen in der Regel in Pommern schwieriger als etwa in Hamburg und Schleswig-Holstein. Es wird also darauf ankommen, die Anregungen, die eine größere Kirche geben kann, aufzunehmen, aber gleichzeitig Möglichkeiten zu einer weiteren Beheimatung der jungen Theologinnen und Theologen im Pommerschen Kirchengebiet zu bieten.
Die Entwicklungsmöglichkeiten in der Nordkirche sind jedenfalls um Einiges vielfältiger als bisher in Pommern:
• Ab Nordkirchenbildung, d.h. faktisch ab sofort wird es gemeinsame Konvente der Theologiestudierenden geben. Daneben werden wir im Pommerschen Evangelischen Kirchenkreis gelegentlich spezifische Angebote zur Begleitung der pommerschen Studierenden machen.
• Ab 2012 werden nur noch gemeinsame nordkirchliche Vikarskurse angeboten.
• Allerdings wird nur in jeweils zwei von drei Kursen
die Möglichkeit geboten, das Vikariat in Mecklenburg oder Pommern zu absolvieren.
Das ist m.E. zu selten, um genügend zukünftige Pastorinnen und Pastoren für einen Pfarrdienst in diesen beiden Kirchenkreisen zu motivieren.
Eine Pastorin oder ein Pastor als geistliche Leiterin oder geistlicher Leiter im Pommerschen Evangelischen Kirchenkreis muss mehr als Pommern kennen, um hier fruchtbar wirken zu können. Aber sie oder er muss seine Kirche auch lieben und hier in Vorpommern mit all seinen Schönheiten, aber auch seinen Schwierigkeiten seine Heimat finden. Pommersche Pastorinnen und Pastoren müssen sich damit arrangieren, mit wenigen weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammen arbeiten zu können, weil es diese einfach nicht gibt. In der Regel tragen sie Ver¬antwortung für viele zu versorgende Kirchengebäude. Häufig finden sich nur kleine Gottesdienstgemeinden ein. Wir machen die Erfahrung, dass pastorale Arbeit unter solch erschwerten Bedingungen am Selbstwertgefühl nagt und die Arbeitskraft schwächt, wenn dem nicht eine reiche innere Welt und ein In-sich-ruhen entgegen gestellt werden kann.
Der Glaubende – nicht nur Pastorinnen und Pastoren – leben aus einer Geborgenheit, die nur das Ewige schenkt. Sie bezeugen mit Wort und Tat eine Botschaft, die Menschen auf ein sinnvolles Leben hier und ein ewiges Leben dort ausrichtet. Damit sind Pastorinnen und Pastoren Teil des Lebens, das ohne Glauben und Kirche an Lebensqualität verlieren würde. Nur mit Bezug auf eine innere Welt wird aber das Leben in der Tiefe des pommerschen ländlichen Raumes als „Landlust“ empfunden werden. Ohne spirituellen Tiefgang fixiert man sich zu schnell auf die Mühsal der weiten Fläche und der mangelnden materiellen Möglichkeiten und resigniert vor lauter „Landfrust“.
In vielen Ländern Europas steigt das Image ländlichen Lebens. Dies ist höher, je mehr aus freier Entscheidung auf dem Land Lebende es gibt. Wer freiwillig auf dem Land lebt, entdeckt die Chance der Weite, der Stille, der guten Luft, der Verbindung zur Natur und der Ursprünglichkeit. In überschaubaren Strukturen ist größere Nähe möglich. „Landlust“ empfindet, wer in größeren Zusammenhängen denkt.
An der Gestaltung einer neuen Kirche mitzuwirken, ihre Theologie in Weiterentwicklung bewährter Traditionen fortzuschreiben und Menschen, die das Rufen der Ewigkeit, das sie hören, aus Unkenntnis nicht verstehen, einen Weg zu dieser Ewigkeit zu weisen, ist eine spannende und erfüllende Aufgabe. Die Kirche in Pommern freut sich über jeden Theologiestudierenden, der in Zukunft diese Aufgabe mit übernehmen will.