WS 2015/2016

„Die Sache mit dem Religionsunterricht und der Kirche… “

Pastorin Nicole Thiel (Kiel) Referentin für Ausbildungsbegleitung, Religionslehrkräfte, Vernetzung beim Landeskirchenamt Kiel

 

„Denkanstoß“ heißt diese Rubrik – Denkanstöße habe ich im vergangenen Jahr tatsächlich reichlich bekommen. Seit Oktober 2014 arbeite ich als Referentin im Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) und beschäftige mich intensiv mit dem ev. Religionsunterricht und der Ausbildung der angehenden Religionslehrerinnen und Religionslehrer in der Nordkirche. Als ich diese Stelle angetreten habe, hätte ich von mir behauptet, ein einigermaßen klares Bild vom Religionsunterricht zu haben und auch von denen, die dieses Fach unterrichten wollen. Das Religionsunterricht als Schulfach auf verschiedenen Ebenen immer wieder intensiv diskutiert und hinterfragt wird, war mir natürlich klar. Gleichzeitig bin ich davon ausgegangen, dass diejenigen, die dieses Fach studieren, in der Regel zur ev. Kirche gehören und sowohl der Kirche als auch dem Modell des Religionsunterrichts, wie er hier zu Lande unterrichtet wird, aufgeschlossen gegenüberstehen. Wie unterschiedlich die Haltungen zum Religionsunterricht und wie verschieden das Selbstverständnis der angehenden Religionslehrenden tatsächlich sind, hat mich dann doch überrascht.

In den letzten Monaten hatte ich die Gelegenheit in zahlreichen Begegnungen und Gesprächen mit Ihnen, den Lehramtsstudierenden im Fach Evangelische Religion, in Kontakt zu kommen und Ihre differenzierten Sichtweisen und Meinungen zum Religionsunterricht zu hören. Was kann Religionsunterricht als Schulfach leisten? Was für einen Religionsunterricht brauchen wir jetzt und in Zukunft? Welche Ausbildung und welche Voraussetzungen brauchen die Unterrichtenden? Welche Rolle sollte die Kirche spielen oder auch nicht spielen? Diese Fragen und Themen sind mir in den Gesprächen am häufigsten begegnet.

Wie sich jeder und jede Einzelne zu diesen Fragen und zum Religionsunterricht positioniert, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Besonders zu Beginn des Studiums haben vermutlich die eigenen biografischen Vorerfahrungen den größten Einfluss auf die persönliche Meinungsbildung. Was macht einen guten Religionsunterricht und was macht einen/eine gute/n Religionslehrerin/Religionslehrer aus? Wie wird das Verhältnis von Religionsunterricht und Kirche bewertet? Für die eigene innere Positionierung ist es nicht unerheblich, wie der eigene schulische Religionsunterricht bewertet wird (wenn er denn überhaupt stattgefunden hat), ob man aus einem kirchlichen, nichtkirchlichen, freikirchlichen oder einem ganz anderes gearteten religiösen Kontext kommt, in welchem Teil Deutschlands (Europas /der Welt) die eigenen Wurzeln liegen und wo die eigene (Familien)Geschichte beheimatet ist.

Diese persönlichen Erfahrungen bilden eine gute und wichtige Orientierungshilfe, wenn es darum geht, die eigene Position zum Religionsunterricht zu finden. Aber sie sind ergänzungsbedürftig durch theologische Argumente und rechtliche Grundlagen. Was lässt sich aus theologischer Sicht zum Religionsunterricht sagen? Und wie verhalten sich die persönlichen und theologischen Gedanken zu den gesetzlichen Grundlagen für den Religionsunterricht?

Prägende biografische Vorerfahrungen, theologische Grundlegungen und gesetzliche Vorgaben ergeben ein komplexes Diskussionsfeld, welches im Rahmen dieses Artikels nicht annähernd erschöpfend bearbeitet werden kann. Deshalb möchte ich, mehr exemplarisch, einigen Überlegungen zu Fragen anbieten, die mir in den letzten Monaten häufig begegnet sind. Diese Überlegungen verstehe ich weniger als Antworten, sondern mehr, ganz der Rubrik entsprechend, als Denkanstöße.

Jeder und jede kann in Greifswald – oder auch an einer anderen staatlichen Universität, die diesen Studiengang anbietet – Evangelische Religion studieren. Um für dieses Studienfach zugelassen zu werden, muss man, wie für jedes andere Studienfach auch, die Zulassungskriterien erfüllen, die die jeweilige Universität dafür vorsieht. Die Zugehörigkeit zur ev. Kirche oder zu einer anderen ev. Glaubensgemeinschaft ist kein Zulassungskriterium. Es gilt die Freiheit der universitären Lehre: Jeder und jede, der oder die sich für ein Studium der Evangelischen Religion interessiert, kann dieses Fach auch studieren. Und das ist, dies sei hier ganz deutlich gesagt, auch gut so. Gleichzeitig ist es so, dass auch das Studium der Evangelischen Religion schulische Vorbildung in diesem Bereich voraussetzt, wie jedes andere Fach auch. Niemand käme auf die Idee Mathe zu studieren, der nicht wenigsten mit den Grundlagen der Mathematik vertraut ist und damit einigermaßen (gut) zurechtkommt. Wer also noch niemals eine Bibel aufgeschlagen hat, wird im Studium Evangelische Religion vermutlich Schwierigkeiten bekommen. Manchmal höre ich, dass Studierende Evangelische Religion gewählt haben, weil es als „leichtes“ (Zweit)Fach gilt. Häufig sind diese Studierenden dann überrascht, was in diesem Fach von ihnen gefordert wird. Sie sind davon ausgegangen, dass es in diesem Studienfach hauptsächlich darum geht, eine eigene Meinung zu haben und darüber zu diskutieren, vielleicht noch, sich grundlegendes Wissen über verschiedenen Religionen anzueignen.

Das ist nicht grundsätzlich falsch, jedoch deutlich zu kurz gegriffen. Wer das Studienfach Evangelische Religion wählt, entscheidet sich für ein wissenschaftliches Studium der Theologie, in dem es unter anderem darum geht, einen eigenen theologischen Standpunkt zu entwickeln und die eigene „Meinung“ zu einer theologisch fundierten Sprachfähigkeit weiterzuentwickeln – und das ist nicht unbedingt „leicht“, dafür aber ungemein bereichernd und spannend.

Nun ist es allerdings so, dass es Menschen gibt, die ambitioniert studiert und ihr Lehramtsstudium Evangelische Religion erfolgreich abgeschlossen haben und trotzdem dieses Fach nicht unterrichten dürfen. Für die Einschreibung an der Universität ist die Kirchenzugehörigkeit kein Kriterium – für die kirchliche Unterrichtserlaubnis an öffentlichen Schulen schon. Dies ist ein feiner und doch folgenschwerer Unterschied. Wer in Mecklenburg-Vorpommern an öffentlichen Schulen Religionsunterricht erteilt, tut das in inhaltlicher Verantwortung der Nordkirche und braucht daher eine kirchliche Unterrichtserlaubnis (Vokation). Neben einem erfolgreich abgeschlossenen Studium gehört zu den Voraussetzungen für diese Unterrichtserlaubnis die Zugehörigkeit zur Nordkirche oder zu einer anderen ev. Kirche, die zur Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (AcK) gehört. Und hier schnappt für so manchen die „Mausefalle“ zu – so mag es sich jedenfalls für den einen oder die andere anfühlen. Ich kann dieses Gefühl verstehen, vor allem dann, wenn einen die entsprechenden Informationen (zu) spät erreichen. An dieser Stelle treffe ich häufig auf Unverständnis, Frustration und auf das Gefühl, keine freie Wahl mehr zu haben. Eines sei hier ganz deutlich gesagt, diese Regelung ist kein, wie es mir hier und da schon unterstellt wurde, „Mitgliederfang“ der Kirche.

Im Gegenteil, wer tatsächlich auf keinen Fall zur Kirche gehören möchte und damit seinen tiefsten (Glaubens)Überzeugungen zuwider handeln würde, sollte auch auf gar keinen Fall eintreten. Damit tut man niemanden etwas Gutes – sich selbst nicht, und ganz ehrlich, der Kirche auch nicht. Das bedeutet nicht, dass man sich schon im 1. Semester sicher sein muss, dass der eigene Weg in die Kirche führt. Das Studium ist eine gute Zeit, um die eigenen (Wert)Vorstellungen und Einstellungen zu überprüfen und sich ehrlich zu fragen, wo der eigene Weg hinführen kann und soll. Und, nebenbei bemerkt, für den Kircheneintritt /die Taufe braucht es auch keinen „perfekten“, von allen Zweifeln befreiten Glauben - im Gegenteil, Glaube und Zweifel/kritische Auseinandersetzung gehören immer zusammen. Doch man sollte sich ehrlicherweise selbst fragen, ob der Weg in die Kirche überhaupt eine denkbare Möglichkeit ist.

Aber warum? Diese Frage ist mir in den letzten Monaten sehr häufig begegnet. Warum muss ich zu Kirche gehören, wenn ich Religionslehrer/in werden möchte?

Am einfachsten ist diese Frage sicherlich mit einem Hinweis auf die rechtlichen Gegebenheiten zu beantworten. Denn nach Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes ist Religionsunterricht an allen öffentlichen Schulen der Länder Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein ordentliches Lehrfach. Da es sich bei diesem Unterricht nach dem Grundgesetz nicht um neutrale Religionskunde handelt, der Staat aber seine weltanschauliche Neutralität wahren muss, übernehmen die Religionsgemeinschaften die inhaltliche Verantwortung für diesen Unterricht. Daher wird er im Raum der Nordkirche als kath. oder ev. Religionsunterricht bzw. als „Religions-unterricht für alle in evangelischer Verantwortung“ erteilt. Der Staat (bzw. das jeweilige Bundesland) ist zuständig für die unternehmerischen Aufgaben wie Personal, Räume und Unterrichtsmaterialien. Damit ist der Religionsunterricht eine so genannte „res mixta“, ein Unterrichtsfach also, das von beiden Seiten, dem Staat und der Religionsgemeinschaft, getragen wird. Zu diesem Zweck werden die Religionslehrenden vom Staat mit der staatlichen Unterrichtserlaubnis (Master/2. Staatsexamen) und von der Kirche mit der kirchlichen Unterrichtserlaubnis (Vokation) für diesen Unterricht beauftragt. Es ist wichtig, ja notwendig, um diese rechtlichen Grundlagen für den Religionsunterricht zu wissen. Doch möchte ich die Frage nach dem „Warum“ der Kirchenzugehörigkeit nicht nur rechtlich, sondern auch theologisch in den Blick nehmen.

Denn nach meiner Wahrnehmung ist mit diesem „Warum“ vor allem ein Einwand verbunden. Er lautet: „Ich kann doch schließlich auch glauben, wenn ich nicht in der Kirche bin.“. Dazu gibt es eine klare Antwort: Ja, das stimmt. Niemand kann an der Kirchenzugehörigkeit ablesen oder gar beurteilen, was der andere glaubt und was nicht. Ganz sicher gibt es sehr gläubige Menschen, die nicht zur Kirche gehören und ebenso Kirchenglieder, die in einer Art und Weise handeln und leben, die es schwer macht, das mit dem christlichen Glauben zusammenzubringen. Doch es geht bei der Taufe bzw. bei der Entscheidung in die Kirche einzutreten auch nicht um eine „Glaubensprüfung“. Es geht vielmehr um so etwas wie eine Bereitschaft oder „Willenserklärung“. Nämlich um die Willenserklärung, das Wirken Gottes im eigenen Leben, im Leben anderer und in dieser Welt als eine Möglichkeit anzunehmen und sich dem nicht von vornherein zu verschließen. Wer sich, theologisch gesprochen, eine Gottesbeziehung wünscht, ist in der Kirche als der „Gemeinschaft der Heiligen“ richtig – auch dann, wenn die eigenen (Glaubens)Zweifel die Oberhand haben.

In-Beziehung-Sein zu Gott, zu den Mitmenschen und zur Schöpfung ist konstitutiver Bestandteil des christlichen Glaubens. Und wer in Beziehung mit dem Anderen oder den Anderen ist, hat in irgendeiner Art und Weise auch immer Gemeinschaft. Daher ist diese Gemeinschaft (ecclesia), die in der Kirche sichtbar wird, konstitutiver Bestandteil des christlichen Glaubens. Wer sich also entscheidet, nicht zur Kirche zu gehören, verneint damit, zumindest sichtbar, ein Wesensmerkmal von Kirche. Diese Person kann jedoch folgerichtig von der Kirche nicht damit beauftragt werden, einen Unterricht durchzuführen, bei dem es gerade darum geht, die Wesensmerkmale des evangelischen Glaubens nachvollziehbar darzustellen. Mit der Frage nach der Kirchenzugehörigkeit und nach der kirchlichen Unterrichtserlaubnis, das sei noch einmal ganz deutlich gesagt, ist nichts über den Glauben des Einzelnen ausgesagt. Den zu beurteilen ist nicht Sache von uns Menschen, wir können nur das sehen, was vor Augen ist, Gott allein sieht das Herz an (frei nach 1. Sam16, 7). Doch so bleibt uns als Kriterium eben auch nur das, was vor Augen, was sichtbar ist.

Das die Kirche, so wie sie bei uns verfasst ist, Fehler hat, ist unumstritten. Sie ist alles andere als perfekt und kann und sollte sich kritisch damit auseinandersetzen und immer wieder darüber nachdenken, wo es Möglichkeiten zur Veränderung gibt. Ich lade Sie ausdrücklich dazu ein, sich kritisch mit der Kirche auseinanderzusetzen. Gleichzeitig lade ich sie auch zur Selbstkritik ein: Wenn Sie für einen Moment das beiseitelegen, was Sie bis hierher geprägt hat - Ihre Erfahrungen, möglicherweise auch Vorurteile, das, was bisher biografisch vorgegeben war, dass was Sie persönlich als angenehm oder auch als unangenehm empfinden (Stichwort Kirchensteuer) - was ist dann theologisch zur christlichen Glaubensgemeinschaft zu sagen?

Vielleicht haben Sie sich zum Denken „anstoßen“ lassen. Dann würde ich mich freuen, mit Ihnen gemeinsam weiterzudenken, möglicherweise auf einer der nächsten Veranstaltungen von „Die Wegweiser“ das Begleitangebot der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland für Lehramtsstudierende im Fach ev. Religion. Oder Ihnen brennt jetzt direkt eine Frage, eine Anmerkung oder ein Widerspruch unter den Nägeln. Dann freue ich mich auf Ihre E-Mail (nicole.thiel@lka.nordkirche.de). Denn darum geht es uns: Wir wollen mit Ihnen in Kontakt kommen, Ihre Meinung hören und Ihre Denkanstöße aufnehmen!