Denkanstoß WS 2005/2005

„Das Recht, ein Ketzer zu sein“ - Erwägungen zu Albert Schweitzers liberaler Theologie

Prof. Dr. Erich Gräßer

 

Albert Schweitzer gehört zweifellos zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des vorigen Jahrhunderts. Seine weltweite Verehrung als Anwalt gelebter Humanität ist unlösbar verknüpft mit dem 1913 von ihm eigenhändig in Lambarene in Zentralafrika errichteten Spital. Runde 40 Jahre hat er dort für ein „unmittelbar menschliches Dienen“ als Arzt, Baumeister und in den Nächten als Schriftsteller gelebt. Im 91. Lebensjahr ist er dort am 4. September 1965 in dem bescheidenen Raum, der ihm als Wohn-, Schlaf- und Studierzimmer gedient hatte, gestorben. Es ist nur zu verständlich, daß – wer seinen Namen hört – den den Urwalddoktor Albert Schweitzer vor sich sieht.

Hinter diesem Bild ist das des Theologen, der er von Hause aus war und zeitlebens geblieben ist, weitgehend verschwunden.

Schweitzer stammte aus einem liberalen elsässischen Pfarrhaus. Er studierte in Straßburg Theologie und Philosophie, je ein Semester auch in Berlin und in Paris, wo er außerdem Orgelunterricht bei Charles Marie Widor nahm. In drei Fakultäten der Straßburger Universität wurde er promoviert: 1898 in der philosophischen über die Religionsphilosophie Immanuel Kants, 1900 in der theologischen über das Abendmahlsproblem und 1913 in der medizinischen über die psychiatrische Beurteilung Jesu. Er war gleichzeitig Vikar, Privatdozent, Direktor des Thomasstiftes und Organist der Pariser Bach-Gesellschaft. Neben alledem schrieb er seine Aufsehen erregenden theologischen Hauptwerke sowie das ihn berühmt machende Buch über Johann Sebastian Bach (1905/1908).

Das Habilitationsangebot der philosophischen Fakultät schlug er aus, weil es verknüpft war mit der Forderung, sein Amt als Vikar an der St. Nicolaikirche in Straßburg aufzugeben. Die Philosophen wollten keinen Prediger! Schweitzer aber mochte auf das Predigen nicht verzichten. „Es war mir das Predigen ein innerliches Bedürfnis. Ich empfand es als etwas Wunderbares, allsonntäglich zu gesammelten Menschen von den letzten Fragen des Daseins reden zu dürfen.“ So wählte er statt der philosophischen die seinem Urteil nach davon gar nicht grundverschiedene theologische Laufbahn, habilitierte sich 1902 mit einer „Skizze des Lebens Jesu“ für das Fach Neues Testament und hielt von nun an bis zur Ausreise nach Lambarene, also runde 10 Jahre, zusätzlich zur sonntäglichen Predigt und den zahlreichen Orgelkonzerten neutestamentliche Vorlesungen. Sie geben uns Aufschluß darüber, daß Schweitzer Katheder und Kanzel zu vereinen wußte. Einer doppelten Wahrheit gab er keinen Millimeter Raum! Kirche und Wissenschaft waren für den kompromißlosen Individualisten keine Gegensätze. Er machte aus den im Hörsaal vorgetragenen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen der Gemeinde gegenüber kein Geheimnis.

Schweitzer ist freilich nicht nur gelobt, sondern auch kritisch betrachtet worden. So z.B. von dem bedeutenden Greifswalder Alttestamentler Julius Wellhausen, Professor der hiesigen theologischen Fakultät von 1872 bis 1882 und auch deren Ehrendoktor (1882), der im Unterschied zu Albert Schweitzer den Gegensatz von Kirche und Wissenschaft so stark empfand, daß er seine theologische Professur schließlich niederlegte. Wellhausen schrieb 1911 über Schweitzer: „Seine Begabung, Productivität, seine Arbeits- und Forschungskraft sind imposant. Er ist Musiker, Mediciner, Pastor und Privatdocent, durch Concerte verdient er sich seinen Lebensunterhalt und die Mittel zur Missionierung der Kongoneger – er will im Herbst 1912 nach dem Kongo. Ich bin ganz starr und fürchte nur, daß er sein Pulver vorzeitig verschießen wird, so immens auch der Vorrat bei ihm sein mag. Für eine Professur an einer theologischen Fakultät paßt er natürlich nicht […].“

Nun, heute lesen Sie ein anderes Urteil über den Theologen Albert Schweitzer, der übrigens zwei Berufungen an theologische Fakultäten erhalten und abgelehnt hat, nämlich 1921 nach Zürich und 1931 nach Leipzig. Außerdem wurde ihm von acht Fakultäten die Ehrendoktorwürde verliehen, darunter Prag (1929), Edinburgh (1931), Oxford (1932), Marburg (1952) und Tübingen (1957). Nein! Unter den mancherlei Gründen, die Anlaß geben, sich an Schweitzers Genie zu erinnern, sehe ich die Theologie an der ersten Stelle. „Jedes seiner Talente hätte für eine kleine Unsterblichkeit ausgereicht. Schweitzers Theologie aber hat geradezu ein Recht dazu“, urteilte Jan Roß, der diese Ansicht insbesondere mit den beiden theologischen Hauptwerken Schweitzers, der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ von 1906 bzw. 1913 und der „Mystik des Apostels Paulus“ von 1930 begründete. Daß sie keine „Klassiker“ geworden sind, hänge unter anderem damit zusammen, „daß die Theologie, anders als Literatur, Geschichte, sogar Philosophie, keinen Platz im Bildungswesen“ habe.

Letzteres hat Schweitzer selbst bereits 1903 bemängelt in einem Straßburger Vortrag zum Thema „Der Protestantismus und die theologische Wissenschaft“: „Religiöse Bildung gehört nicht zur Bildung: Das ist für unsere Zeit ausgemacht. Sogar das Herauskehren der absoluten Interesselosigkeit für religiöse Probleme […] wird als nicht unvereinbar mit der Bildungssucht empfunden. Wenn einer nicht weiß, ob ein Gemälde aus dem 15. oder 16. Jahrhundert ist, oder wenn einer nicht Beethoven von Chopin unterscheiden kann, der hat’s in der Bildung versungen und vertan, wenn er aber in den allerelementarsten Dingen der Vergangenheit unserer Religion keinen Bescheid weiß, das nimmt ihm niemand übel.“

Ausgemacht für unsere heutige Zeit ist allerdings auch, daß Schweitzer – trotz des Rechts seiner Theologie auf eine kleine Unsterblichkeit – im theologischen Wissenschaftsbetrieb ein Außenseiter geblieben ist. Woran liegt das?

Zum einen haben es die Zeitumstände verhindert, daß Schweitzers Theologie- und Christentumsverständnis ausdiskutiert wurden. Kaum hatte er beides der erschreckten Zunft vorgestellt, brach der Erste Weltkrieg aus. Und als der gerade zu Ende war, haben Karl Barths dialektische Theologie und der bald beginnende Kirchenkampf, danach dann die von Rudolf Bultmann ausgelöste Debatte um die Entmythologisierung des Neuen Testaments die theologische und kirchliche Diskussion bestimmt, an welcher der fernab weilende Schweitzer vielleicht auch gar nicht teilnehmen wollte. Seinem Bewunderer Martin Werner, damals Professor für Systematische Theologie in Bern, nahm Schweitzer in einem Brief vom 20. Januar 1931 das Versprechen ab, „nicht mehr als 12 (zwölf) Mal im Semester von den Barthianern und ihrer Ketzerei“ zu reden. „Lies gute Vorlesungen, als wären sie nicht auf der Welt.“

Zum andern hat sich Albert Schweitzer mit seiner liberalen Theologie so sehr auf einen schroffen Konfrontationskurs zur kirchlichen Orthodoxie begeben, daß man seine wichtigen Problemstellungen auf sich beruhen ließ. Überdies hatte er schon zeitig „das Osterlicht auf dem Wege seiner persönlichen Heilssuche ausgeschaltet“. Das machte ihm schon bei seiner Habilitation Schwierigkeiten und führte dazu, daß die Pariser Missionsgesellschaft ihn nur als Arzt und nicht als Missionar nach Afrika gehen ließ. Man hatte Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit und stellte mancherorts ganz ungeniert die Frage: Ist Schweitzer überhaupt Christ? Vertritt er möglicherweise einen nur verschwiegenen Atheismus?

Ich denke, daß das Thema „Albert Schweitzer und die Theologie“ sehr viel differenzierter behandelt werden muß. Schweitzers theologische Studien sind ausschließlich auf das geschichtliche Verständnis Jesu und des Apostels Paulus und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für unser heutiges Christsein konzentriert. Diesen Themen, durch den Titel seines letzten postum erschienenen Werkes „Reich Gottes und Christentum“ (1967) prägnant zusammengefaßt, blieb er lebenslang zugewandt.

Betrachten wir zunächst sein Jesusverständnis:

Unvoreingenommene geschichtliche Forschung lehrt uns, daß Jesus apokalyptischer Endzeitprophet war, der mit der Erwartung des in Bälde von selbst kommenden Reiches Gottes gescheitert ist. Geblieben und allein maßgebend ist nach Schweitzers Überzeugung die von Jesus gelebte und verkündigte ethische Botschaft, wie sie vor allem die Bergpredigt und die Gleichnisse bezeugen. Mit Jesu Ethik der absoluten Liebe sieht er den Grundstein gelegt zu einem neu zu verstehenden Reich Gottes, an dessen Werden und Vollendung wir im Geiste Jesu mitzuarbeiten haben. „Jesus ist sich bewußt, der geistige Herrscher der Menschheit zu sein. […] warum nach Formeln für ihn suchen? […] Er sei für uns, was er für die ersten Jünger war, ein Mensch, für den wir keine Formel finden, der auf seinem Wege auf uns zukommt und spricht: Du aber folge mir nach…!“

„Nicht mehr können wir […] in dem Glauben an das […] von selbst kommende Reich Gottes verbleiben. Für die Menschheit, wie sie heute ist, handelt es sich darum, das Reich Gottes zu verwirklichen oder unterzugehen.“ Das schrieb Schweitzer 1953, also in dem Jahr, in dem er den Friedensnobelpreis entgegennahm, um bald darauf mit seinem über Radio Oslo verbreiteten Aufruf gegen die Gefahren der Kernwaffenversuche die Menschheit vor die Alternative zu stellen: „Friede oder Atomkrieg“. Er berief sich dafür auf die von ihm entwickelte Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“. „Nur das Denken, in dem die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben zur Macht kommt, ist fähig, die Zeit des Friedens in unserer Welt anbrechen zu lassen.“

Kommen wir zu seinem Paulusverständnis:

Schweitzers Beschäftigung mit dem Heidenapostel ist insofern eine gradlinige und folgerichtige Fortsetzung seiner Leben-Jesu-Forschung, als er sich davon 1. die Bestätigung erhoffte, mit seiner konsequent-eschatologischen Jesusdeutung im Recht zu sein. Aber neben diese sachliche Erwägung tritt als Triebkraft auch 2. eine persönliche Komponente, das nennt man „die Anverwandlung des Heiden“.

1. Paulus ist für Schweitzer derjenige, der nach Ostern die Botschaft Jesu logisch zu Ende denkt. In dem von ihm errichteten christologisch-soteriologischen Gebäude lebt die Ethik des Evangeliums Jesu unverändert fort. „Nicht dem Buchstaben, aber dem Geiste nach setzt Paulus das einfache Evangelium Jesu fort.“ „Im Denken Pauli beginnt das übernatürliche Reich zum ethischen zu werden und sich damit aus etwas zu Erwartendem in etwas zu Verwirklichendes zu verwandeln. Den Weg, der sich damit auftut, haben wir zu begehen.“

Damit zog sich Schweitzer den Vorwurf zu, er verlege den Schwerpunkt des christlichen Glaubens auf unser Handeln. „Der Vorwurf ist richtig“, sagt er. Nicht „das Erlöser-Drama unserer Dogmatik“ mit Tod und Auferstehung Christi sei Schwerpunkt des christlichen Glaubens, „sondern das Kommen des Reiches Gottes in unsere Herzen und in die Welt“. Daß das bekämpfte Dogma dasjenige ist, das im Wesentlichen auf Paulus zurückgeht, das gehört zu den Widersprüchen, die man bei Schweitzer häufiger findet.

2. Die Anverwandlung des Heiden. Pauli Pathos der Wahrhaftigkeit – 2 Kor 13,8: „Wir vermögen nichts wider die Wahrheit, sondern nur etwas für die Wahrheit“ –, sein leidenschaftliches Ringen um die Freiheit des Geistes – 2 Kor 3,17: „Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ –, schließlich Pauli Disziplin des Denkens, das sind in der Tat Züge im Wesen des Apostels, denen sich Schweitzer vollkommen verwandt fühlte. In vielfacher Weise wußte er den eigenen Kampf um die Wahrhaftigkeit und Freiheit des Denkens durch die Autorität des Paulus legitimiert.

Hand in Hand mit der Entwicklung seiner theologischen Position ging ein schweres Ringen um die Lebensentscheidung, die ihn schließlich nach Afrika führen sollte. Seiner späteren Frau Helene Breßlau, zu diesem Zeitpunkt bereits Waiseninspektorin in Straßburg, klagr er in einem Brief vom 25. Februar 1905: „Du bist tätig, und ich bin ganz einfach Privatdozent – ein Mensch, der doziert statt zu handeln.“ „Aber ich will mich aus diesem bürgerlichen Leben befreien, das alles in mir töten würde, ich will leben, als Jünger Jesu etwas tun.“ „Ich habe nicht mehr den Ehrgeiz, ein großer Gelehrter zu werden, sondern mehr, einfach ein Mensch.“ Zwei Jahre vorher hatte er ihr bereits anvertraut: „Der Geist, der zu mir spricht, ist eine Realität, die einzige übernatürliche Realität, die für mich wirklich existiert – der Rest ist nur Symbol […].“ „Und dann das Recht haben, ein Ketzer zu sein“, schreibt er 1904, „nur Jesus von Nazareth kennen; die Fortführung seines Werkes als einzige Religion haben. […] Nicht mehr die Angst vor der Hölle kennen, nicht mehr nach den Freuden des Himmels trachten. – Gestern beim Einschlafen las ich das 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums, weil ich so sehr den Vers liebe: »Was ihr getan habt einem dieser Geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan«. Aber wo beim Jüngsten Gericht von der Scheidung der »Schafe und der Böcke« die Rede ist, da lächelte ich: Ich will nicht zu den Schafen, und im Himmel treffe ich sicher eine ganze Gesellschaft, die ich nicht mag: St. Loyola, St. Hieronymus und ein paar preußische Oberkirchenräte – und mit denen allen freundlich tun und den Bruderkuß austauschen? Nein, ich verzichte; lieber in die Hölle, dort ist die Gesellschaft weniger gemischt. Mit Julian Apostata, [dem spätantiken Kaiser, der das römische Reich zum Heidentum zurückführen wollte,] mit Caesar, Sokrates, Platon und Heraklit läßt sich schon ein anständiges Gespräch führen.“

Über diese Sätze wird wohl auch Helene Breßlau gelächelt haben. Doch Schweitzer beschließt sie mit einem gewichtigen, sehr ernsten „Aber“, mit dem er sich unverstellt zu erkennen gibt: „Aber ich diene ihm [Jesus] doch, seinetwegen, allein seinetwegen –, denn er ist die einzige Wahrheit, das einzige Glück.“

Eine mit Ironie gewürzte fromme Ketzerei ist das! Sie bestätigt, was Schweitzer von sich selber sagt: „Ich bin ein rationalistischer Pietist.“ Noch deutlicher bezeugt das ein Brief an Helene Breßlau vom 6. September 1903: „Ich bin nicht fromm. Käme ich morgen zu dem Schluß, daß es keinen Gott gibt und keine Unsterblichkeit und daß die Moral nur eine Erfindung der Gesellschaft ist – dann würde mich das überhaupt nicht berühren. Das Gleichgewicht meines inneren Lebens und das Bewußtsein meiner Pflicht wären nicht im geringsten erschüttert. Ich würde lachen, von Herzen lachen und sagen: na und? »La séance continue«.“ – „Die Sitzung geht weiter“, hatte der Ausruf des Präsidenten der französischen Deputiertenkammer, Charles Dupuy, nach einem Bombenattentat am 9. Dezember 1893 ge lautet. – Die Sitzung geht weiter! Das Bewußtsein der Pflicht bleibt! Die Fortführung des Werkes Jesu als der einzigen Religion geht weiter!

Wer uns mit diesem entschlossenen Bekenntnis entgegentritt, ist der Nietzsche-Leser Albert Schweitzer. Im „Antichrist“ von Friedrich Nietzsche fand Schweitzer Sätze, die er selbst hätte schreiben können. „Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem »Glauben« […] das Abzeichen des Christen sieht: bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich.“

Genauso hat Schweitzer Jesu Aufforderung zur Nachfolge verstanden. Allerdings könnte Schweitzer den „Glauben“ als Abzeichen des Christen niemals als „falsch bis zum Unsinn“ bezeichnen. Statt vom „Glauben“ redet er in solchen Zusammenhängen lieber vom Dogma. Und den Dogmen gegenüber stellt er ausdrücklich fest: „Nicht stehen wir als Sklaven unter ihrer Herrschaft, nicht fallen als empörte Sklaven wir über sie her, […] Wir verstehen sie als etwas notwendig Gewordenes; wir achten sie als alte heilige Gefäße, in welche die vergangenen Geschlechter das Lebenswasser gefaßt haben und in denen auch wir solches kosten. Aber weil uns eben das geschichtlich Gewordene daran aufgegangen ist, sind sie für uns keine bindende Norm.“

 

Wie ist abschließend Schweitzers liberale Theologie, seine „Ketzerei“, zu bewerten?

In der Sache ist sie nichts anderes als ein kompromißloses Eintreten für die geschichtliche Wahrheit, die ihm – wie er formulierte – „etwas Heiliges“ war. „Ein Christentum, das die historische Wahrheit nicht in den Dienst der geistigen zu stellen wagt, ist innerlich nicht gesund, auch wenn es sich stark vorkommt. Die Ehrfurcht vor der Wahrheit als solcher, die in unserem Glauben sein muß, wenn er nicht zum Kleinglauben werden soll, begreift auch die Achtung vor der historischen Wahrheit in sich.“ Das steht nicht zufällig im Vorwort zu Schweitzers bedeutendem Paulusbuch. Neben einer ausführlichen Darstellung der Theologie des Apostels zeigt Schweitzer in seinem Buch jedenfalls auch, daß und warum Paulus für ihn der „erste und größte aller christlichen Denker“ ist. Er preist ihn als „den einzig großen Lehrer aller Zeiten“, der „das Recht des Denkens im Christentum sichergestellt“ habe, und zwar das Recht des kritischen Denkens. Paulus ist für Schweitzer der erste derartige Denker in einer langen Kette, als deren vorläufig letztes Glied er sich selber gesehen hat. „Die Worte »Den Geist dämpfet nicht« [1 Thess 5, 19] und »Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit« [2 Kor 3, 17], […] besagen, daß das denkende Christentum in dem glaubenden sein Recht haben soll und daß es dem Kleinglauben niemals gelingen darf, mit der Ehrfurcht vor der Wahrheit fertig zu werden. Nie soll das Christentum die großartige Unbefangenheit ablegen, in der es bei Paulus auch das Denken als von Gott kommend anerkennt. Nie soll sich das Frühlingshafte des paulinischen Christentums in dem unsrigen überleben.“

Es ist also letztlich Paulus, von dem Schweitzer das Recht herleitet, ein Ketzer zu sein.

Bemerkenswert ist, daß er in diesem Zusammenhang noch einmal einen Bezug zu Nietzsche herstellt. „»Halbseitige Lähmung des Christentums und der Vernunft« hat Nietzsche die Krankheit genannt, die man sich bei der Suche nach faulen Kompromissen zwischen Glauben und Wissenschaft holt.“ Das entspricht ganz der Überzeugung Schweitzers, in der dieser sich allerdings in erster Linie durch den Apostel Paulus, nicht durch Nietzsche, bestätigt sah. So schrieb er in dem schon genannten Brief vom 6. September 1903, er lese gerade Nietzsches Schrift „Jenseits von Gut und Böse“. Er nenne sie das „neue Testament vom Stolz der menschlichen Natur“: „In Nietzsche war etwas von dem Geist Christi; dies zu sagen ist ein Sakrileg. Gleichviel: es ist dennoch wahr; schließlich ist ja nur das Blasphemische wahr. […] ihm [Nietzsche] fehlte die Aktivität; […] Aber er war edel, dieser Mann; hätte er 20 Jahrhunderte früher gelebt, wäre er Paulus geworden.“

Nun, Schweitzer fehlte es wahrlich nicht an Aktivität. Paulus wurde er zwar nicht, aber doch ein entschiedener Pauliner, als der er sich am besten davor bewahrt wußte, zu einem Kleingläubigen der Wahrheit zu werden. Mit der ihn auszeichnenden sprachlichen Bildkraft bringen das die Schlußsätze seiner „Geschichte der paulinischen Forschung“ von 1911 zum Ausdruck. Sie knüpfen an Mt 14, 22-33 an, das ist die Geschichte vom sinkenden Petrus, der bei seinem Gang über das Wasser hin zu dem seewandelnden Jesus in dem Augenblick untergeht, da ihn die Angst vor Wind und Wellen kleingläubig werden läßt. „Es ist das Los der Kleingläubigen der Wahrheit, daß sie als echte Petriner römischer und protestantischer Observanz jammernd da versinken, wo die an den Geist glaubenden Pauliner auf dem Meere der Ideen ruhig und sicher einherschreiten.“

Der war Schweitzer selber: ein auf dem Meer der Ideen ruhig und sicher einherschreitender Pauliner. Und wer weiß, ob es trotz der Anfechtbarkeit seiner Theologie in manchen Punkten nicht doch eher ein Gewinn und weniger ein Schaden für das heutige Christentum wäre, wenn es mehr „Ketzer“ vom Schlage Albert Schweitzers gäbe?!