SS 2020

Quereinstieg in den Pfarrdienst - Geht das überhaupt?

Dr. Tobias Sarx

Zehn Jahre lang hatte er als Finanzmanager in der Ölindustrie gearbeitet, zuständig für Erdölförderungsprojekte in der Nordsee und in Westafrika. An der Bezahlung lag es nicht, dass er seinen Job an den Nagel hängte. Über mangelnde Aufstiegschancen konnte sich der studierte Jurist ebenfalls nicht beklagen. Und doch spürte Justin Welby, dass er in seinem bisherigen Beruf nicht glücklich war. Gab es eine Chance, noch einmal neu anzufangen? Die Frage war nicht leicht zu beantworten, schließlich hatte Welby eine Familie zu versorgen. Zwei kleine Kinder warteten abends nach getaner Arbeit auf die Heimkehr ihres Vaters, und ausgerechnet jetzt war seine Frau erneut schwanger. Ein schlechter Zeitpunkt, um finanzielle Risiken einzugehen – ganz zu schweigen von den Belastungen, die ein weiteres Studium mit sich bringen würde. Zum Glück kannte Welby’s anglikanische Heimatkirche bereits damals – im Jahr 1989 – die Möglichkeit eines verkürzten Theologiestudiums für Menschen mit anderen Berufsbiographien. Drei Jahre lang sollte die Zurüstung zum geistlichen Amt dauern. Für eine junge Familie eine gerade noch überschaubare Zeit, in der es darum gehen würde, mindestens teilweise von den Ersparnissen der vergangenen Jahre zu leben. Justin Welby nahm die Herausforderung an. Er vertiefte sich in sein Theologiestudium, schloss es erfolgreich ab, 1992 erfolgte die Weihe zum Diakon,
1993 die Priesterweihe. Ist es möglich, dass ein theologischer Seiteneinsteiger nach nur drei Jahren Ausbildung sein pastorales Amt auf einem angemessenen Niveau ausübt? In Deutschland ist diese Frage in den vergangenen Jahren intensiv diskutiert worden. Die anglikanische Kirche antwortet mit einem klaren ‚Ja‘. Immerhin traut sie einem Seiteneinsteiger zu, die Krönung des nächsten englischen Königs zu leiten. Justin Welby bekleidet nämlich heute als Erzbischof von Canterbury das höchste geistliche Amt im Vereinigten Königreich und ist damit zuständig für die Krönungszeremonien des Nachfolgers Elisabeths II.

Die anglikanische Kirche weiß seit vielen Jahren das Potential zu schätzen, das Menschen mit alternativen (akademischen) Berufsbiographien mitbringen. Die wenigsten von ihnen legen eine derart steile Karriere hin wie Justin Welby. Das ist auch gut so, denn die anglikanische Kirche braucht ebenso wie die Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland Pastorinnen und Pastoren, die in einer Ortsgemeinde treu ihren Dienst verrichten und darin die Erfüllung ihrer Berufung verspüren. Es geht also nicht um Ausnahmetalente wie Justin Welby, wenn im Folgenden über Seiteneinstiegsmöglichkeiten nachgedacht wird, sondern um normal begabte Menschen, die nach einer gewissen Zeit in einem anderen Beruf den Wunsch verspüren, Theologie zu studieren. Die Greifswalder Fakultät hat die Entscheidung getroffen, für diese Menschen den Weiterbildungsstudiengang ‚Master of Theological Studies‘ (MThS) zu entwickeln. Start: Herbst 2020. Zulassungsvoraussetzungen sind ein abgeschlossenes Hochschulstudium in einem anderen Fach und fünf Jahre darauf aufbauende Berufserfahrung. In der berufsbegleitenden Variante dauert der Master sechs Semester, Vollzeit kann er in vier Semestern studiert werden. Bevor das Studium beginnt, sind allerdings Prüfungen in Bibelkunde, Griechisch und Hebräisch abzulegen. Hierfür sollten weitere 9-12 Monate eingeplant werden.

Die Diskussion um die Einführung des MThS hat unter Theologiestudierenden in ganz Deutschland für Verwunderung gesorgt. Die Frage ist berechtigt, ob ein solcher theologischer Abschluss in gleicher Weise für den Pfarrdienst qualifizieren kann wie das 1. Theologische Examen. Isoliert betrachtet sicherlich nicht: Der Versuch, denselben Stoff in kürzerer Zeit zu vermitteln, kann nur scheitern. Bezieht man die vorangegangenen Berufsbiographien und die praktischen Anforderungen der späteren Tätigkeit jedoch mit ein, ergibt sich ein  differenzierteres Bild: So steht die Lehrerin im Konfirmandenunterricht nicht zum ersten Mal vor pubertierenden Jugendlichen, der Jurist aus dem Unternehmen bringt  Personalführungskompetenz mit, die Journalistin hat in ihrem vorigen Job die Unterscheidung von wesentlichen und unwesentlichen Informationen eingeübt und der Leiter eines Altenpflegeheims weiß in der plötzlichen Konfrontation mit Leid und Tod ebenso angemessen zu reagieren wie die erfahrene Psychiaterin.

Wer sich auf den MThS einlässt, hat neben der Berufserfahrung ein erstes Hochschulstudium bereits absolviert und damit Orientierungsprozesse, die jede*r mit Anfang 20 durchmacht, bereits hinter sich gelassen. Diese sind ungemein wichtig und häufig ein Argument gegen die Möglichkeit einer Verkürzung des Theologiestudiums: Es braucht nicht nur Zeit, das Studieren überhaupt erst zu lernen, sondern es ist auch notwendig, sich innerlich auf eine neue Lebenssituation einzustellen und die elterliche Prägung ein Stück weit hinter sich zu lassen. Die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit erlebt während der ersten Studiensemester einen gewaltigen Schub – nicht primär durch erfolgreich bestandene Prüfungen, sondern dadurch, dass man sich auf das studentische Leben mit allen seinen Irrungen und Wirrungen einlässt. Wenn ich persönlich zurückschaue, sage ich mit voller Überzeugung, dass mein Studium ohne die Erlebnisse, die ich außerhalb der Vorlesungs- und Seminarzeiten gemacht habe, nur halb so viel wert wäre: Unzählige gesellige Abende, in denen wir über Gott und die Welt diskutiert haben; Gelegenheitsjobs während der Semesterferien, um sich längere Auslandsaufenthalte zu finanzieren; ehrenamtliches Engagement in der Jugendarbeit einer Kirchengemeinde und die damit verbundene Herausforderung, komplexe theologische Themen für Menschen aus bildungsfernen Milieus herunterzubrechen, Wechsel des Studienortes, um neue Horizonte zu entdecken…

Das alles scheint gegen die unweigerlich straffe zeitliche Struktur eines berufsbegleitenden Masterprogramms zu sprechen. Aber wie schon erwähnt: Wir sollten nicht vergessen, dass diejenigen, die für den MThS infrage kommen, bereits ein Hochschulstudium absolviert und diese Orientierungsphase bereits hinter sich haben. Natürlich bringt die Auseinandersetzung mit theologischen Fragen neue Herausforderungen mit sich. Das ist ja auch der Grund, warum ein Theologiestudium unabdingbar für einen Zugang in den Pfarrdienst ist. Für jemanden, der Mitte 40 ist und der eine Familie hat, die auf ihn wartet, sind drei Jahre Masterstudium sehr viel Zeit. Und Sie können sich darauf verlassen: Wer trotz vielfältiger privater Verpflichtungen die Mühen eines Zweitstudiums auf sich nimmt, geht mit hoher Motivation an den Start.

Während meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg hatte ich 2008 die Gelegenheit, Master-Studierende aus der Perspektive eines Lehrenden kennenzulernen. Es handelte sich um die erste von mittlerweile vier Gruppen, die von Marburg aus berufsbegleitend ein dreijähriges Masterprogramm durchlaufen haben. Rasch merkte ich, dass ich keine Gruppe vor mir sitzen hatte, die nichts anderes mit ihrem Leben anzufangen wusste, als in ihrer Freizeit Theologie zu studieren. Vor mir saßen Menschen, die sich in ihren angestammten Berufen mehrheitlich bewährt hatten, die allesamt über mehr Lebenserfahrung verfügten als ich und von denen jede*r rund 10.000,- Euro bezahlte, um am Masterstudium teilnehmen zu dürfen. Viele von ihnen hatten sich für die Präsenzwoche Urlaub nehmen müssen – Zeit, die sie ansonsten gern mit ihren Liebsten verbracht hätten. Das Unterrichtsgespräch mit dieser Schar studierter und lebenserfahrener Menschen hat mich zutiefst beeindruckt. Die verschiedenen Berufsbiographien wirkten sich befruchtend auf die Diskussionen aus. In den Pausen erfuhr ich, warum die Gruppe konzentriert bei der Sache war: Das Studium ist so eng getaktet, dass man sich keinen Hänger erlauben kann. Nur wer kontinuierlich bei der Sache bleibt, wahrt seine Chance auf einen erfolgreichen Abschluss.

Die Begegnung mit den Teilnehmenden des Masterkurses hat in mir großen Respekt geweckt. Ich ziehe den Hut vor Menschen, die eine derartige Mehrfachbelastung über einen Zeitraum von mehreren Jahren nicht nur aushalten, sondern sogar gestärkt daraus hervorgehen. Die Nordkirche kann sich glücklich schätzen, wenn sich demnächst Absolventinnen und Absolventen des Greifswalder MThS auf einen Vikariatsplatz bewerben. Das Risiko ist weder für die Greifswalder Fakultät noch für die Nordkirche groß, denn die in Evaluationsberichten solide ausgewerteten Erfahrungen der vier Marburger Master-Durchgänge seit 2007 bieten genügend Anhaltspunkte, dass alle Seiten von dem Programm profitieren werden. Und wer weiß, vielleicht öffnen wir Personen mit dem Potential eines Justin Welby durch den MThS die Tür zur Theologie. Insofern ist zu sagen: Wie gut, dass der Fakultätentag der Ev.-Theol. Fakultäten im Oktober 2018 und die Kirchenkonferenz im darauf folgenden Dezember der „Rahmenstudienordnung und der Rahmenprüfungsordnung für den Weiterbildungsstudiengang Evangelische Theologie mit dem ‚Master of Theological Studies‘ (M.Th.S.)“ zugestimmt haben. Eine EKD-weite Anerkennung des Abschlusses ist also gewährleistet.

Gestatten Sie mir, an dieser Stelle ein häufig anzutreffendes Missverständnis auszuräumen: Die Theologischen Fakultäten haben seit 1999 vehement gegen die Einführung eines konsekutiven Bachelor-/Mastermodells gekämpft. In diesem Zusammenhang haben Fakultäten und Landeskirchen gleichermaßen zum Ausdruck gebracht, dass ein dreijähriges Bachelorstudium niemals als Qualifikation für den pfarramtlichen Dienst ausreichen würde. Wenn wir nun von einem dreijährigen Masterprogramm sprechen, werden Erinnerungen an diese Auseinandersetzungen um den sog. Bologna-Prozess wach. Allerdings werden hier Äpfel mit Birnen verglichen. Die Studierenden des Masterkurses sind keine  leichtfüßigen Bachelor-Studierenden, sondern umfassend ausgebildete Hochschulabsolvent*innen, die einen zweiten akademischen Abschluss erwerben wollen. Sie wissen bereits aus ihrem Erststudium, wie auf wissenschaftlichem Niveau gearbeitet wird. Und sie verfügen über reichhaltige Erfahrung, welche Rolle wissenschaftliche Standards im Berufsalltag spielen. Am Ende eines dreijährigen Masterstudiums wird diese Personengruppe ungleich mehr theologische Kompetenz erworben haben als ein junger Bachelor-Absolvent.

Die Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland hat im November 2019 entschieden, den MThS als Voraussetzung für die Bewerbung auf einen Vikariatsplatz anzuerkennen. Damit macht sie deutlich, dass sie – ebenso wie die anglikanische Kirche – die bisherige Berufsbiographie von Menschen mittleren Alters zu schätzen weiß. Ist es ungerecht, dass Menschen mit einem ersten Hochschulabschluss und fünf Jahren Berufserfahrung nicht mehr das volle grundständige Theologiestudium absolvieren müssen? Ich denke nicht. Denn der Weg über einen anderen Beruf und das dreijährige Masterprogramm ist mitnichten kürzer und auch nicht weniger anspruchsvoll. Die Erfahrungen der beiden hessischen Kirchen mit den Marburger Masterabsolvent*innen zeigen: Diese verrichten ihren pastoralen Dienst auf demselben hohen Niveau wie ihre Kolleginnen und Kollegen, die grundständig Theologie
studiert haben.

Einen neuen Weg beschreitet die Nordkirche mit der Anerkennung des MThS nicht, denn in allen drei Vorgängerkirchen gab es früher einmal die Praxis, Menschen über eine verkürzte theologische Weiterbildung in den Pfarrdienst zu übernehmen: In Nordelbien war bis Ende der 1970er Jahre das Predigerseminar in Preetz für die Qualifizierung bewährter kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zuständig. Als Pfarrvikar*innen wurden diese nach durchlaufener Ausbildung mit der Verwaltung von Pfarrstellen betraut und konnten nach einer Bewährungszeit von fünf Jahren in den vollanerkannten Dienst eines Pastors/einer Pastorin gelangen (seinerzeit übrigens mit ausdrücklicher Zustimmung der Theologischen Fakultät Kiel). Die Pommersche Kirche kannte bis Anfang der 1990er Jahre eine seminaristische Predigerausbildung und in Mecklenburg wurden bis in die 2000er Jahre hinein bewährte kirchliche Kräfte auch ohne grundständiges Theologiestudium in den Pfarrdienst übernommen. Wer sich die Mühe macht, im Archiv die alten Dokumente zum Thema anzuschauen, wird feststellen, dass es gute Argumente gibt, an diese altbewährten Wege anzuknüpfen. Andreas Hertzberg, der als Studienleiter Mitte der 1970er Jahre in Preetz für die Ausbildung von Pfarrvikarinnen und Pfarrvikaren verantwortlich war, spricht in der Rückschau von einer ‚Erfolgsgeschichte‘, und wer mit älteren Pastorinnen und Pastoren in Mecklenburg und Pommern spricht, wundert sich, warum diese alternativen Wege nach der Wende überhaupt geschlossen wurden. Verantwortlich dafür war in erster Linie die hohe Anzahl an Theologiestudierenden, die von der Universität her in den kirchlichen Dienst strömte. Es gab schlicht keinen Bedarf mehr für andere Zugänge. An der mangelnden Kompetenz hat es jedenfalls nicht gelegen, wenn man den Synodalprotokollen der damaligen Zeit Glauben schenken möchte. 1971 hieß es auf der Landessynode der schleswig-holsteinischen Landeskirche beispielsweise, die Pfarrvikare hätten sich in ihrem Dienst „hervorragend bewährt“ und würden längst als „wertvoller Teil unserer Pastorenschaft“ anerkannt. Eine Gegenrede erfolgte nicht.

Der Weg über den MThS in den Pfarrdienst wird die Ausnahme bleiben. Die Synodalen der Nordkirche haben im November 2019 das grundständige Theologiestudium noch einmal als regulären Zugang zum Dienst des Pastors/der Pastorin bestätigt. Ausnahmen stellen eine Regel nicht infrage, vielmehr bestätigen sie die Regel. Denn durch sie findet eine Erkenntnis der antiken Philosophie Berücksichtigung, der zufolge die unbedingte Gleichbehandlung aller zu großen Ungerechtigkeiten führen kann. Die Einführung des MThS erzeugt mehr Gerechtigkeit, weil dadurch die Berufsbiographien einer klar definierten Zielgruppe gewürdigt werden.

Die Nordkirche steht in den nächsten Jahren vor großen Herausforderungen: Bis 2030 gehen mehr als die Hälfte aller im aktiven Dienst stehenden Pastorinnen und Pastoren in den Ruhestand. Nach einer prognostischen Hochrechnung können über die herkömmlichen Wege zwei Drittel aller freiwerdenden Pfarrstellen nicht wiederbesetzt werden. Trotz eines unumgänglichen Stellenabbaus (abnehmende Mitgliederzahlen, reduzierte finanzielle Mittel) bleibt eine Lücke. Es besteht also Bedarf für die MThSAbsolvent* innen. Die Kritiker werden einwenden: Ist es richtig, aufgrund einer Notsituation das Niveau zu senken? Antwort: Nein. Durch die Einführung des MThS wird aber in Rechnung gestellt, dass heologisches Fachwissen nicht alles ist, was im Pfarrberuf eine Rolle spielt. Und von dem ‚anderen‘, das auch wichtig ist, bringen die Menschen, für das der MThS konzipiert wurde, eine Menge mit. In der Summe, so die Erfahrung der hessischen Kirchen, sind am Ende des Vikariats beide Gruppen zwar nicht gleichartig, aber doch gleichwertig für den pastoralen Dienst qualifiziert.

Das Interesse am neuen Greifswalder Studiengang ist groß. Ich wünsche der Fakultät viele motivierte und begabte MThS-Studierende sowie gutes Gelingen bei der praktischen Umsetzung des bereits ausgearbeiteten Konzepts.