WS 2014/2015

„Und halte den Koffer bereit.“ Von Orientfotografen, Palästinaforschern und anderen Sinnsuchern

Dr. K. Berkemann

 

Es ist ein Allgemeinplatz, zumindest ein theologischer, dass wir fahrendes Volk sind. Wir wandern, im besten Fall mit guter Gesinnung und Begleitung, gen Ungewissheit. Da ist es nur allzu menschlich, dass wir uns festhalten wollen. Die Sehnsucht des Frommen ist eine tiefe: Ließen sich doch die biblischen Geschichten bebildern, besuchen, begreifen. Es muss wahr und schön sein, wovon wir gelesen haben und weitererzählen sollen. Wenn wir zuallererst glauben müssen, dann wollen wir zu guter Letzt sehen. Seit Jahrhunderten zieht es Gläubige ins Heilige Land – den preußischen Theologen Gustaf Dalman (1855–1941) genauso wie heute uns Sinnsucher. Und weil uns das Preußentum tief in den protestantischen Knochen steckt, wollen wir den Orient dann in Koffer, Kisten und Kasten packen.

 

Sehnsucht nach Jerusalem

Was Reisende sich um 1900 nach einer beschwerlichen Seereise vom Heiligen Land ersehnten, spiegeln die pastellgetönten Farbdrucke dieser Zeit wider. Die Orient-Bildbände, die das gutbürgerliche Wohnzimmer der Jahrhundertwende schmückten, zeigten historische Bauten, idyllische Landschaften und fremdartig gekleidete Menschen: von der verschleierten Schönheit bis zum bewaffneten Beduinenhirten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fingen Westeuropäer mit unhandlich großen Plattenkameras sorgfältig durchkomponierte Orient-Motive ein. Und um 1900 entdeckte eine geschäftstüchtige Schweizer Firma, wie sich ältere Schwarzweiß-Fotografien in Farbdrucke umwandeln ließen. Damit konnte eine breite Käuferschicht kostengünstig mit morgenländischen Bilderbögen versorgt werden. Auch Gustaf Dalman wuchs in der Brüdergemeine mit Sehnsuchtsbildern des Gelobten Lands auf. Ein Forscherleben lang wollte er diesen Glaubensdingen auf den realen Grund gehen. Zunächst vertiefte er sich im Theologischen Seminar von Gnadenfeld und am Leipziger Institutum Judaicum vor allem in die Feinheiten der Sprache Jesu und seiner Zeitgenossen. Von 1899 bis 1900 konnte Dalman endlich – auf Einladung und mit Stipendium – in Palästina die Dialekte und Bräuche der Menschen miterleben und dokumentieren. Kurz zuvor, im Herbst 1898, hatte Jerusalem die „Kaisertage“ gefeiert: Wilhelm II. besuchte die Pilgerstätten, weihte die deutsche Erlöserkirche ein und unterzeichnete die Gründungsurkunde des „Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes“. Nach einem wehmütigen „Abschied vom Orient“ kehrte Dalman schon 1902 als Direktor der neuen Einrichtung zurück. In der Vielvölkerstadt Jerusalem waren die prestigeträchtigen archäologischen Grabungen schon anderen Nationen vorbehalten. Also tat Dalman, was ihm am nächsten lag, er fotografierte und beschrieb das Alltagsleben der Hirten und Bauern. Unermüdlich sammelte er Anschauungsstücke: vom Webstuhlmodell über die Reißsichel bis zur gepressten Wüstenblume. Aus dem Deutschen Reich wurde Dalman jedes Jahr eine Handvoll Theologen geschickt. Die gestandenen Pastoren und Doktoren erhielten ein Forschungsstipendium. Doch der Höhepunkt für jeden Kurs war die „große Zeltreise“, die Dalman mit seinen Gästen im Frühjahr durch Palästina unternahm. Es ging Dalman nicht um zweckfreien Abenteuerurlaub. Doch um den akademischen Elfenbeinturm zu verlassen, mussten sich die Stipendiaten auch ihre Finger und Füße schmutzig machen. Im Dienst der Wissenschaft sollten sie Arabisch sprechen, weite Strecken reiten, im Zeltlager übernachten und Ruinen erklimmen können. Unterwegs griffen Dalman und einige der Stipendiaten zur inzwischen etwas handlicheren Plattenkamera. Viele dieser Aufnahmen kamen – teils auf Umwegen – wieder zu Dalman, der einige von ihnen sortierte, beschriftete und in seltenen Fällen auch für seine Bücher verwendete. Oder die Fotografien gelangten als große Glasplattendias in die Schausammlung, mit der Dalman und seine Nachfolger in Greifswald ihren Theologiestudenten ein Bild von Palästina machten.

 

Palästina in Greifswald

Dalman hatte ein Land auf Glasplatte gebannt, das durch die Europäer langsam verdrängt wurde. Von dieser untergehenden Welt sollte die – inzwischen handlichere und erschwinglichere – Kamera keine Stimmungs-, sondern Forschungsbilder einfangen. Doch verschwimmt diese Grenze, wenn am 9. April 1905 zwei anzugtragende Stipendiaten in Samaria auf zwei orientalisch gewandete Frauen treffen. Nach Dalmans Bildunterschrift geht es um die altertümliche Wiege, nach dem Gesichtsausdruck der Beteiligten geht es um mehr. Divisionspfarrer Friedrich August Fenner, dem wir wohl diese Fotografie verdanken, bewies nicht nur ein gutes Auge für Lichteinfall und Bildaufbau. Seine Momentaufnahme zeigt die Begegnung zweier Kulturen, die uns heute beide gleichermaßen fremd geworden sind.

Der Weg nach Palästina wurde Dalman, als er 1914 in Deutschland auf Erholungsurlaub war, durch den Ersten Weltkrieg unverhofft abgeschnitten. Also nahm er schweren Herzens den Ruf nach und die angebotene Professur in Greifswald an. Aus Kisten und Kasten klaubte er große Teile seiner Jerusalemer Sammlung zusammen. Doch wollte er in Greifswald kein Museum aufbauen, sondern andere Theologen durch Schaustücke, Karten und Fotografien auf ihre Palästinareise vorbereiten oder diese ganz ersetzen. Jeder Theologe, ob Pfarrer oder Forscher, sollte seinen Sehnsuchtsbildern vom Heiligen Land feste Umrisse geben können. Die Sammlung, Fotografien und Notizbücher sortierend, stellte Dalman über die Jahre sein achtbändiges Lebenswerk zusammen: „Arbeit und Sitte in Palästina“.

Für sein Lebensthema konnte Dalman in Greifswald 1920 ein Institut gründen, das später nach ihm benannt wurde. Seine Sammlung wurde für die Universität angekauft, bevor er 1941 in Herrnhut verstarb. Dass eine Palästinareise in den folgenden Nachkriegsjahrzehnten für Greifswalder schwer bis unmöglich wurde, machte die Gustaf-Dalman-Sammlung umso kostbarer. Seit 1992 fahren nun wieder Greifswalder Theologen ins Land der Bibel – auch zum „Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes“, das sich in Jerusalem und Amman auf die Archäologie spezialisiert hat. Und immer wieder kommen Forscher aus Amerika und dem Nahen Osten nach Greifswald, wo Dalmans Sammlung ihnen einen einmaligen Einblick in ihre kulturellen Wurzeln bietet.

Damit Kultur- und Sinnsucher ihre Reise künftig auch virtuell antreten können, steht nun wieder Kistenpacken an. Einige der rund 15.000 Glasplatten, Farbdrucke und Papierabzüge sind noch verpackt wie zu Dalmans Zeiten. Keksdosen, Feldpostbriefumschläge oder Zeitungsbögen bergen für uns heute wertvolle Informationen, wann und woher die Aufnahmen zur Sammlung kamen. Die Fotografien werden eingescannt, vermessen und mit einer Signatur versehen, die dargestellten Orte und Personen benannt, alles in die universitäre Datenbank eingegeben, verknüpft und online zugänglich gemacht. Oder, kurz gesagt: Wir packen das untergegangene Palästina der Bauern und Hirten – Dalmans Sehnsucht mit den Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts folgend – in virtuelle Kisten und Kasten.

 

Pilgern für Fortgeschrittene

In den letzten 150 Jahren hat die Fotografie große Sprünge gemacht. Der Rollfilm löste die Glasplatte ab. Und 1992 machte es uns die praktische Pocket- oder Wegwerfkamera leicht: Beim kirchlichen Jugendaustausch konnten wir alle neuen Eindrücke von Israel unmittelbar und in Farbe festhalten. Darunter waren viele Motive, wie sie sich schon 90 Jahre zuvor Dalman und seinen Stipendiaten angeboten hatten: von der Jerusalemer Altstadt bis zu den Höhlengräbern aus biblischen Zeiten. Aber da waren ebenso das moderne Haifa und die bewaffneten „Sicherheitskräfte“, die uns die allgegenwärtige Unsicherheit sichtbar machten. Nach diesem Sommer wussten wir nicht nur mehr über die Orte unseres eigenen Glaubens, sondern auch über die Menschen, die heute im Land der Bibel leben.

Das Pilgern zu den „heiligen Stätten“ ist durch die Jahrhunderte nicht einfacher geworden. Nicht mehr die mittelalterlichen Wegelagerer oder die lange Seereise machen den Weg beschwerlich. Heute sind es die vielen Menschen, die zugleich ihren Anteil an diesem besonderen Flecken Erde beanspruchen. Doch wussten sich die Pilger schon vor Jahrhunderten zu helfen. Wer im Heiligen Land war, brachte die neuen Eindrücke zurück mit nach Hause. Wer es nicht bis nach Jerusalem schaffte, suchte sich seine Ziele in der erreichbaren Nähe. Als ihm der Weg nach Palästina versperrt war, wandte sich auch Dalman seiner alten Heimat zu. Er forschte z. B. zur spätgotischen Heilig-Grab-Anlage, die von Pilgern um 1500 nach dem Vorbild der Jerusalemer Grabeskirche in Görlitz angeregt wurde.

In den letzten Jahren wuchs dem mittelalterlichen Bau an der deutsch-polnischen Grenze eine neue Bedeutung zu. Nicht genug, dass jährlich etwa 28.000 Besucher aus Europa und Übersee nach Görlitz zum Heiligen Grab kommen. Seit der Wende begeben sich jeden Karfreitag rund 300 Gläubige auf den Evangelischen Kreuzweg.

Ihre Route bezieht die ganze Stadt ins Heilsgeschehen ein: Das Portal der St. Peter-Kirche steht für das Richthaus des Pilatus, die Hügellandschaft erinnert an das biblische Kidrontal mit dem Ölberg, … Und seit 2011 wird regelmäßig ein grenzüberschreitender ökumenischer Pilgerzug ausgerichtet. Deutsche und Polen schreiten Stationen dies- und jenseits der Grenze ab, überwinden unterwegs nationale und konfessionelle Schranken, beten und feiern gemeinsam.

Auch Dalmans Stipendiaten setzten im Palästina-Jahrbuch über viele ihrer Reiseberichte den stilisierten Pilgerhut mit Stab und Muschel. Doch deutete Dalman diese Pilgerschaft ganz preußisch-protestantisch. Die „heiligen“ Stätten aufzusuchen, diene nicht der schwärmerischen Anbetung. Je mehr der evangelische Gläubige über die Zeiten und Orte der Bibel wisse, desto besser könne er die inneren Sehnsuchtsbilder mit der Wirklichkeit abgleichen. Dalmans Palästinaforschung sollte den Glauben nicht verstören, sondern vertiefen. Ein Gedanke, der auch unsere Renaissance des Pilgerns bereichern kann. Inhaltlich wie wirtschaftlich nachhaltig sind letztlich nur die geistlichen Reiseformen, die den geschichtlichen Boden nicht verlassen – und der kann direkt vor der eigenen Haustür liegen.

 

Preußische Sehnsüchte

Viele von uns teilen Dalmans Sehnsucht nach dem Land der Bibel. Wir können ihr heute auf vielfältige Weise nachgehen: mit der Flugreise nach Jerusalem, einer Wanderung auf dem Jakobsweg, dem Alltagspilgern vor der Haustür – oder einem Blick in die Sammlung, die Dalman in Jerusalem zusammengetragen und in Greifswald geordnet hinterlassen hat. Viele seiner Fotografien lassen uns hinter die Kulissen einer frommen Bilderproduktion schauen und längst verstorbenen Menschen in einer untergegangenen Kulturlandschaft begegnen. Anhand erster Datensätze können Interessierte diese Reise auch schon von ihrem Rechner in Übersee antreten. Was könnte Schöneres entstehen, wenn preußische Ordnungsliebe und protestantische Sehnsucht aufeinandertreffen.

 

Literatur

Dalman, Gustaf, Die Kapelle zum Heiligen Kreuz und das Heilige Grab in Görlitz und in Jerusalem, hg. Vom Evangelischen Gemeinde-Kirchenrat Görlitz, Görlitz o. J. [1916].

Dalman, Gustaf, Arbeit und Sitte in Palästina, 7 Bd.e, Gütersloh 1928–42.

Männchen, Julia, Gustaf Dalmans Leben und Wirken in der Brüdergemeine, für die Judenmission und an der Universität Leipzig 1855–1902 (Abhandlungen des Deutschen Palästina-Vereins), Wiesbaden 1987 [zugl. Diss., Universität Greifswald, 1984].

Männchen, Julia, Gustaf Dalman als Palästinawissenschaftler in Jerusalem und Greifswald. 1902–1941 (Abhandlungen des Deutschen Palästina-Vereins 9,2), Wiesbaden 1994 [zugl. Habil., Universität Greifswald, 1991].

Hardmeier, Christof/Neumann, Thomas, Palästinawissenschaft in Deutschland. Das Gustaf-Dalman-Institut Greifswald 1920–1995, Berlin u. a. 1995.

Smend, Rudolf, Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004.

Kemp, Wolfgang, Geschichte der Fotografie. Von Daguerre bis Gursky (C. H. Beck Wissen), München 2011.

Kaléko, Mascha, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, 4 Bd.e, hg. von Jutta Rosenkranz, München 2012 [die Überschrift dieses Beitrags als Zitat aus ihrem Gedicht „Rezept“].

Antz, Christian/Berkemann, Karin (Hg.), 100 spirituelle Tankstellen. Reisen zu christlichen Zielen, Freiburg im Breisgau 2013.