WS 2016/17

„Nur der Himmel ist die Grenze...?“ Ein religionswissenschaftlicher Denkanstoß

Prof. Dr. Stephanie Gripentrog (Greifswald)

 

Die Weite des Himmels, der Landschaft und des Meeres in und um Greifswald kannte ich, bevor ich hierher kam, lediglich von den Gemälden Caspar David Friedrichs. Dementsprechend hatten meine ersten Eindrücke mit diesem Ort sehr wenig mit Grenzen, und sehr viel mit Weite zu tun.

 

Dennoch oder vielleicht gerade deshalb möchte ich im Rahmen dieses Denkanstoßes das Sinnbild der Grenze aufgreifen, um ein paar Überlegungen aus meiner Antrittsvorlesung vom Januar 2016 vorzustellen. Das betrifft einerseits mein Verständnis von der Religionswissenschaft als dem Fach, das ich hier an der Fakultät vertrete und das meines Erachtens in vielfacher Weise mit Grenzfragen zu tun hat. Andererseits möchte ich das Thema der Grenze am Beispiel der Religionspsychologie, genauer: dem Thema der Grenzerfahrungen, etwas näher betrachten.

 

Man kann den Ort, an dem Religionswissenschaft beginnt, mit unterschiedlichen Formen sowohl von Grenzziehungsprozessen als auch von Grenzüberschreitungen in Verbindung bringen. Dies betrifft einerseits ihre Abgrenzung gegenüber bzw. Unterscheidung von anderen Disziplinen im 19. Jahrhundert, etwa der Philosophie oder der Theologie. Dieser Schritt ist zugleich verknüpft mit einer geographischen, kulturellen und auch sprachlichen Grenzüberschreitung. Denn Religionswissenschaft war ursprünglich vor allem das Studium des ‚Fremden‘, des ‚Anderen‘, wie auch immer dies begrifflich konkret gefasst wurde. Bei dieser Etablierungsgeschichte ist sodann eine zweite Grenzziehung von maßgeblicher Bedeutung gewesen, an der sich das Fach seitdem immer wieder neu abgearbeitet hat: die Grenzziehung gegenüber ihrem Forschungsgegenstand selbst, der Religion. Auf theoretischer Ebene beginnt Religionswissenschaft daher mit einer Selbst-thematisierung, die zugleich nicht ohne die Thematisierung von Religion als ihrem Gegenstand auskommt. Religion steht also an der Grenze – und zwar auch an der Grenze der Religionswissenschaft. Religiöses von wissenschaftlichem Sprechen über Religion zu unterscheiden, dementsprechend sensibel mit den in der Forschung verwendeten Begriffen umzugehen, gehört mit zum wichtigsten Handwerkszeug dieses Faches.

 

Was ist Religion?

Befassen wir uns zunächst mit der Frage nach dem Gegenstand der Religionswissenschaft – der Religion – und wie er sich sowohl gegenüber der Religionswissenschaft, als auch gegenüber anderen Gegenständen abgrenzen lässt. Ernst Feil hat die Geschichte des Begriffes detailreich aufgearbeitet und gezeigt, dass er ursprünglich – so lesen wir bei Cicero – „die richtigen Verhaltensweisen im Umgang mit den Göttern“ bezeichnet hat. Bis ins 18. Jahrhundert war er hauptsächlich im semantischen Feld um Begriffe wie ‚Praxis‘ und ‚Gesetz‘ anzusiedeln. Diese, von Feil als ‚Religio I‘ bezeichnete Begriffsform wurde erst im späten 18. Jahrhundert durch einen innerlichkeitsbezogenen Religionsbegriff – bei Feil: ‚Religio II‘ – abgelöst, der dann zum „neuzeitlichen Grundbegriff“ aufstieg. Erst seit der Neuzeit finden wir den Begriff also als Kollektivsingular in Verwendung; als Bezeichnung für die Vielzahl unterschiedlicher Religionen. Damit hat er eine spezifische Geschichte und entstammt einem spezifischen kulturellen Kontext. Zugleich tritt er jedoch im heute verwendeten Sinne auch mit kultur- und grenzüberschreitendem Anspruch auf. Viel ist daher schon diskutiert worden über die Probleme, die ein solcher Begriff aufwirft als Instrument der Forschung: Wie kann er sinnvoll auf Phänomene in anderen kulturellen Kontexten angewandt werden, in denen es womöglich weder einen äquivalenten Begriff, noch ein Verständnis davon gibt, was in unserem Kontext ‚Religion’ genannt wird? Wie kann die grundlegend vergleichend angelegte Religionswissenschaft überhaupt zu 84 85 »Denkanstoß« sinnvollen Begriffen kommen, die auch dann noch tragfähig sind, wenn die eigenen Sprach- und Kulturgrenzen überschritten werden? Wie sind Übersetzungsleistungen möglich, ohne dass es zur Verzerrung des zu beschreibenden Gegenstandes kommt, der sich möglicherweise gegen eine sinnvolle Erfassung in unseren Begriffen sperrt?

 

Manche Fachvertreter haben auf dieses Problem mit der Verabschiedung des Religionsbegriffs als Theoriebegriff der Religionswissenschaft reagiert und ihn stattdessen als bekannt, als Teil des common sense, vorausgesetzt. Andere haben ihn in den Kulturbegriff aufgelöst. Beide Lösungsversuche sind meines Erachtens nicht tragfähig. Im ersten Fall führt die Verweigerung, den Begriff explizit zu definieren, lediglich dazu, dass er im Hintergrund weiterhin – dann jedoch unreflektiert und unscharf – die Forschung bestimmt. Im zweiten Fall findet lediglich eine Verschiebung des Problems statt, weil ja auch der Kulturbegriff sinnvoll und eindeutig definiert sein will. Die von mir angesprochenen Herausforderungen des Faches treten also offenbar vor allem an den Orten der Grenzüberschreitung auf: dort, wo die ‚eigene’ Kultur und Sprache überschritten werden.

 

Adäquate Beschreibung?

Eine mögliche Lösung dieses Problems liegt in einem grundlegenden Perspektivenwechsel, der einerseits am Religionsbegriff als dem Theoriebegriff der Religionswissenschaft festhält, andererseits aber den an ihn herangetragenen Anspruch hinterfragt, ein Begriff adäquater Beschreibungssprache sein zu können. Denn dies ist es doch letztlich, wodurch die Kritik an verzerrter Darstellung, das Bedürfnis nach angemessenen Begriffen sich herleitet: das Interesse und Ziel, einen Gegenstand adäquat beschreiben zu können – dass also die Beschreibung des Gegenstandes mit dem übereinstimmt, wie er wirklich ist. Man muss kein radikaler Konstruktivist sein, um die Möglichkeit einer solchen Art der wissenschaftlichen Beschreibung in Frage zu stellen. Vielmehr steht sie in der in den Kulturwissenschaften vielfach rezipierten Konsequenz des linguistic turn mit seiner spezifischen Auffassung von Sprache, die – vereinfachend gesprochen – besagt: Sprache bildet nicht einfach Wirklichkeit ab, sondern konstituiert sie allererst. Sie ist die Grenze jener Welt, in der wir leben. Hinter eine Wirklichkeit jenseits von Sprache können wir dann nicht mehr zurückgehen, und Wissen wird in dieser Sicht grundlegend und unumgehbar perspektivisch.

 

Doch was heißt dies nun für Begriffe wie den der Religion? Und wird er nicht in der Konsequenz eines solchen Denkens zu einem gänzlich beliebigen Begriff? Ich denke nicht. Vielmehr ermöglicht eine solche Sichtweise die Beschreibung und Problematisierung des Begriffes ‚Religion’ als einem Begriff, der Wirklichkeit nicht einfach beschreibt, sondern sie selbst überhaupt erst konstituiert. Eine Wissenschaft, die sich so positioniert, hält deswegen nicht die Welt und die Dinge für weniger real. Sie sieht stattdessen ihre Realität nur in anderer Weise gegeben: als sprachlich bedingt und verfasst. Wer also den Religionsbegriff verwendet, beschreibt in dieser Sicht dann nicht einfach einen Forschungsgegenstand, sondern tut vor allem etwas: er stellt einerseits diesen Gegenstand selbst auf ganz bestimmte Weise her und beschreibt mit ihm andererseits auch andere – etwa religiöse – Weisen seiner Herstellung. Im gut Foucaultschen Sinne richtet sich ein solches Arbeiten in letzter Konsequenz dann natürlich immer „gegen den Gedanken universeller Notwendigkeiten“. Dass dies selbst eine wissenschaftlich streng nicht mehr begründbare Setzung ist, gestehe ich ein. Doch kommen wir meines Erachtens an solchen Setzungen ohnehin niemals vorbei. Daher ist es nur redlich, sie explizit zu machen – als Ausgangspunkt der Forschung und als Angebot, den Gegenstand nun einmal so und nicht anders in den Blick zu nehmen. Ob und inwiefern eine solche Perspektive dann Sinn macht, gewinnbringend ist und was sie zur Forschung beiträgt, ist genau die Frage, die zu diskutieren man anbietet. Beliebig ist dies insofern nicht, als sich eine solche Setzung dem bestehenden wissenschaftlichen Diskurs aussetzen und sich durch ihn prüfen lassen muss – nach den Regeln, über die sich die wissenschaftliche Gemeinschaft zu diesem Zeitpunkt einig ist oder auch streitet.

 

An den Grenzen des Empirischen Aber ist es dabei nicht vielleicht vor allem ihre Qualifizierung als empirisch, die der Religionswissenschaft – auch und gerade im Unterschied zur Religion – ihren wissenschaftlichen Charakter verleiht? In den fachspezifischen Debatten wird der Empiriebegriff meistens auf zweierlei Weise ins Spiel gebracht: einerseits zur Kennzeichnung eines bestimmten Forschungszweigs, der empirischen Sozial- bzw. Religionsforschung – häufig in Gegenüberstellung etwa zur philologisch-historischen Religionswissenschaft. Mit „empirisch“ ist dann eine bestimmte subdisziplinäre Ausrichtung innerhalb des Faches bezeichnet, die vor allem nach der Gegenwartsreligiosität fragt und mit Methoden der empirischen Sozialforschung arbeitet. Mit guten Gründen ließe sich ausgehend von einem weiteren Empiriebegriff dann jedoch fragen, ob nicht auch andere Gegenstände bzw. Quellen der Religionswissenschaft – etwa die der Religionsgeschichte – empirisch zu nennen wären; oder was sie sonst wären wenn nicht empirisch. Dies bringt mich zur zweiten Weise, in der der Empiriebegriff, dann jedoch häufig als Kampfbegriff, ins Spiel gebracht wird: nämlich um in Debatten die Grenze des wissenschaftlich Erforschbaren überhaupt zu markieren: das Empirische bildet dann das Gegenüber zum Metaphysischen oder Transzendenten. Als solches liegt letzteres jenseits wissenschaftlicher Erfass- und Verfügbarkeit, und Religionswissenschaft habe sich dementsprechend jeglicher Aussage über diesen Bereich zu enthalten. Doch auch diese Grenze war und ist umstritten. Denn bei genauerer Betrachtung ist auch der Empiriebegriff alles andere als eindeutig – sofern mit empirischem Wissen ein auf Erfahrung basierendes Wissen bezeichnet wird. Denn gerade die Geschichte der Religionswissenschaft und Religionstheoriebildung zeichnet sich durch eine Vielzahl von Versuchen aus, die den Religionsbegriff gerade über den Erfahrungsbegriff aufbauen und damit eindeutig die Grenze zum Bereich des Transzendenten, Metaphysischen über-schreiten. Besonders augenscheinlich finden wir dies etwa bei Mircea Eliade, einem der bekanntesten Religionswissenschaftler bzw. Religionsphänomenologen des vergangenen Jahrhunderts. Er schrieb: „Der Mensch erhält Kenntnis vom Heiligen, weil dieses sich manifestiert, weil es sich als etwas vom Profanen völlig Verschiedenes zeigt.“ Und weiter: „Es handelt sich immer um denselben geheimnisvollen Vorgang: das ‚ganz Andere’, eine Realität, die nicht von dieser Welt ist, manifestiert sich in Gegenständen, die integrierende Bestandteile unserer ‚natürlichen’, ‚profanen’ Welt sind.“ Das Heilige manifestiert sich in Gegenständen, heftet sich also als etwas Erfahrbares an die sinnlich gegebenen, eigentlich profanen Gegenstände unserer Welt. Noch augenscheinlicher kann man Transzendenzerfahrung mit sinnlicher Erfahrung wohl kaum verbinden. Eine Wissenschaft, die solche Vorgänge beschreibt, wird so schnell selbst zum religiösen Bekenntnis.

 

Dies muss einen jedoch nicht davon abhalten, diese Grenze dennoch – wenn auch immer nur vorläufig und perspektivisch – zu bestimmen. Eine Möglichkeit, die Religionswissenschaft empirisch auszuweisen, besteht meines Erachtens in ihrer grundsätzlichen Be-stimmung als einer Kulturwissenschaft. Clifford Geertz hat dies treffend zum Ausdruck gebracht als er über kulturelle Handlungen – wozu er auch die Religion zählte – schrieb: „Kulturelle Handlungen – das Bilden, Auffassen und Verwenden symbolischer Formen – sind soziale Ereignisse wie all die anderen auch; sie sind ebenso öffentlich wie eine Heirat und ebenso beobachtbar wie eine Landwirtschaft.“ Dementsprechend sah Geertz den Menschen – und damit auch den religiösen Menschen – als ein Wesen, „das in selbst gesponnene(n) Bedeutungsgewebe verstrickt ist.“ Es ist diese sichtbare, öffentlich zugängliche, sinnlich fassbare Welt religiöser Symbole, Handlungen und Gegenstände, in denen Religion als System von Wahrnehmungs-, Zeichen- und Kommunikationsprozessen sichtbar und empirisch fass- und erforschbar wird. Dazu bedarf es weder einer grundsätzlichen Ablehnung noch einer bekennenden Zustimmung zur Existenz des Metaphysischen, Transzendenten – oder wie auch immer wir diesen Begriff konkret fassen wollen. Redlich ist es meines Erachtens, die Frage danach als im Sprachspiel der Wissenschaft unbeantwortbar offen zu lassen – und sich auf die Beschreibung der menschlichen Seite der Religion zu beschränken.

 

Grenzerfahrungen und moderne Psychologie

 

Am Beispiel der Religionspsychologie möchte ich die Frage nach den Grenzen der (Religions)Wissenschaft einerseits, die nach Grenzerfahrungen und ihrer religiösen Bedeutung andererseits – noch etwas weiter konkretisieren.

 

Was wir in dem Zusammenhang heute – nach mehr als einem Jahrhundert der ‚Disziplinierung’ einer Wissenschaft namens Psychologie – vorfinden, ist ein vielschichtiges Feld an unterschiedlichsten Angeboten zur ‚Heilung’ der Seele, von denen die Psychologie und die Psychotherapie weiterhin ‚nur’ Akteure neben anderen bleiben. Auch wenn sich dabei inzwischen einerseits psychiatrische Einrichtungen als die für psychisch kranke Menschen zuständigen Einrichtungen etabliert haben; und auch wenn der Staat nur bestimmte Therapieformen als durch die gesetzliche Krankenkasse zu unterstützende anerkannt hat, gibt es immer noch eine große, ja wachsende Zahl an alternativen, sich dennoch psychologisch nennenden Angeboten. Diese unterliegen, als privat zu bezahlende Angebote, den Gesetzen des Marktes und sind – als stetig wachsender Sektor – ein mehr als deutlicher Indikator für die große Nachfrage in der Bevölkerung.

 

Am deutlichsten wird dies erkennbar an den Angeboten der Heilpraktiker, einer eigenen vom Staat anerkannten Berufsgruppe, die neben den Psychiatern und psychologischen Psychotherapeuten die Hauptanlaufstelle für therapiebedürftige Menschen sind. Ihre Leistungen lassen sich mit der Rezeption etwa fernöstlichen oder auch schamanistischen Gedankenguts und den entsprechenden Praktiken in vielen Fällen als religiös qualifizieren, auch wenn sie sich in ihrer Selbstbeschreibung häufig als wissenschaftlich präsentieren.

 

Doch auch die etablierten Einrichtungen stellen sich inzwischen vermehrt der Frage nach der Relevanz von „Spiritualität“ für die Therapeutik. Deutlichstes Symptom dieses Wandels sind die Diskussionen zu Spiritual Care. Sie sind – durch amerikanische Publikationen von Studien angestoßen, die die Heilkraft des Glaubens zu belegen beanspruchten – inzwischen auch in Deutschland angekommen und inspirieren u.a. Fragen nach der therapeutischen Relevanz von Religion und Spiritualität. Religion und Psychologie rücken offenbar wieder näher zusammen. Ich möchte im Folgenden jedoch an einem etwas spezielleren und vielleicht auch weniger bekannten Beispiel der Gegenwart und näheren Vergangenheit diese erneute – oder vielleicht treffender – ungebrochene grenzüberschreitende Liaison einiger Zweige der Psychologie mit der Religion demonstrieren. Ich wähle dafür die transpersonale Psychologie, eine in den 60er Jahren u.a. durch Abraham Maslow begründete psychologische Strömung, die bis heute in zahlreiche Felder der Psychotherapie und auch sonstige Angebote auf dem sogenannten Psychomarkt ausstrahlt. Maslow war der Schöpfer der vielfach rezipierten Bedürfnispyramide, deren fünf Stufen er – was nicht allzu bekannt ist – gegen sein Lebensende hin um die Dimension der Transzendenz erweiterte. Er sah die Transpersonale Psychologie als „vierte Kraft“ am Ende einer Aufwärtsentwicklung vom Behaviorismus als erster, der Psychoanalyse als zweiter und der humanistischen Psychologie als dritter Kraft. Als solche verstand er sie als die Vollendung und zugleich Aufhebung der bisherigen Stufen der psychologischen Theoriebildung und Therapeutik – mit dem selbst formulierten Ziel, „Die Entfremdung des Menschen von seinem eigentlichen, spirituellen Ursprung, die Verführung zu einem verdunkelten, materialistischen Bewußtsein“ wieder aufzuheben. Dem stellte Maslow einen expliziten Transzendenzbezug entgegen, der auch Teil dieses neuen psychologischen Menschenbildes und einer entsprechenden Therapeutik sein sollte: „Ohne das Transzendente und Transpersonale werden wir krank, gewalttätig und nihilistisch, oder sonst hoffnungslos und apathisch. Wir brauchen etwas ‚Größeres, als wir selbst es sind‘ (...).“ Den Ausgangspunkt dieses Ansatzes bildete für Maslow eine explizit antimaterialistisch ausgerichtete Anthropologie. Die orientierte er nicht am Durchschnitts- oder psychisch kranken Menschen, sondern am Konzept des gesunden, ja überdurchschnittlichen Menschen, der das in ihm liegende Potential voll und ganz entfaltet hat – etwas, das Maslow mit dem Begriff der Selbstverwirklichung bezeichnete und deren tatsächliche Erlangung er nur einem verschwindend geringen Teil der Menschheit zuschrieb. Darüber hinaus bildeten die sogenannten peak experiences, die Gipfelerfahrungen, ein wesentliches Element seiner Psychologie. Maslow beschrieb sie bewusst als „natürliche“, nicht als „übernatürliche“ Erfahrungen und machte deutlich: „Nicht bloß Priester machen sie, sondern die ganze Menschheit.“ »Denkanstoß«

 

Maslow setzte solche Grenz-Erfahrungen damit in Abstand zur etablierten Religion indem er sie auch in anderen als explizit religiösen Zusammenhängen möglich sah: in großen Augenblicken von Liebe und Sex, großen ästhetischen Augenblicken, Verschmelzungserlebnissen in der Natur oder auch sportlichen Erfahrungen. Spannend ist die Konsequenz, die er aus diesem Ansatz für das Verhältnis von Wissenschaft – in dem Fall die Wissenschaft der Psychologie – und Religion zog: Es ginge darum, „die Religion in den Geltungsbereich der Wissenschaft eindringen zu lassen.“ Willis W. Harman, Professor an der Stanford Universität, hatte seinerzeit diese mit Maslow assoziierte Entwicklung in der Psychologie als „Neue Kopernikanische Revolution“ bezeichnet. Sie werde, so auch seine These, die tiefsten Einsichten von Psychologie, Geisteswissenschaften und Religion vereinigen.

 

Seine therapeutische Umsetzung erfährt dieses Konzept dann unter anderem durch die Ermöglichung bewusstseinserweiternder Erfahrungen, die sich auf das Leben des Betreffenden nachhaltig auswirken sollen. Der tschechische Psychiater und Psychotherapeut Stanislav Grof etwa, eine weitere der zentralen Figuren der transpersonalen Psychologie neben Maslow, ist dieser Frage vor allem im Rahmen seiner LSD-Forschung und später, als LSD verboten wurde, durch die Entwicklung der Technik des holotropen Atmens nachgegangen. Vom (Er)finder von LSD, Albert Hofmann, den Grof persönlich kannte und mit dem er in wissenschaftlichem Austausch stand, stammt dementsprechend auch der denkwürdige Satz: „Die Heilspriester unserer Gesellschaft sind vorläufig am ehesten die Psychiater.“ Psychiater als Priester? Dies ist insbesondere in Anbetracht der wiederkehrenden Behauptung einer „Therapeutisierung unserer Gesellschaft“ (vgl. etwa Herbert Willems, Sabine Maasen) ein interessanter Befund im Hinblick auf die Frage nach der Rolle und Form von Religion in der modernen Gesellschaft.

 

Denn die hier behauptete Einheit von Wissenschaft und Religion ist kein Novum, sondern schon im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Entstehung der modernen Psychologie, das holistisch angelegte Alternativprogramm zu jenen Grenzziehungsversuchen geblieben. Ein programmatisch grenzüberschreitendes Vorhaben, das heute vielen Menschen attraktiver denn je zuvor erscheint, gerade weil es wissenschaftlich und religiös zugleich zu sein beansprucht. Aus religionstheoretischer Sicht hätten wir damit auch ein Paradebeispiel westlicher Gegenwartsreligiosität abseits der institutionell etablierten Formen von Religion, das sich gerade durch eine spezifische Weise der Grenzüberschreitung auszeichnet.

 

Schluss

 

Die Religionswissenschaft hat in vielfacher Weise mit dem Thema der Grenze zu tun. Sie stellt sich Fragen nach den Grenzen zwischen Wissenschaft und Religion, nach der Möglichkeit ‚Religion’ überhaupt als einen eigenen Gegenstand der Forschung von anderen Gegenständen abzugrenzen. Andererseits sehen viele, die sich auf theoretischer Ebene mit Religion beschäftigt haben, in einer spezifischen Sorte von Grenzerfahrung das proprium von Religion; und andere verorten ihre Funktion genau an jenen Punkten des menschlichen Lebens, wo es als kontingent, also als an der Grenze des Verstehbaren, des Berechenbaren, des Verlässlichen, erlebt wird.

 

Neuerdings zeigen sich insbesondere auf dem Feld der Psychologie und Psychotherapie Auflösungserscheinungen von ehemals gezogenen Grenzen: die neue Durchlässigkeit zwischen Psychologie und Religion, die Einforderung von Spiritualität oder Transpersonalität im Rahmen psychologischer Anthropologien und Therapieansätze sowie das Pochen auf eine bestimmte Form von Grenz- bzw. Gipfelerfahrungen als einem Meilenstein auf dem Weg zum wahren Mensch-Sein lassen nur allzu deutlich werden: die Therapeutisierung der Gesellschaft stellt in einigen ihrer Spielarten zugleich eine neue Erscheinungsform von Religion dar, in der sie ihre Relevanz auch und gerade für die postmoderne Gesellschaft zu behaupten beansprucht – ein potentialreiches Forschungsfeld für eine Religionswissenschaft, die nach gesellschaftlichen Grenzziehungsprozessen zwischen Wissenschaft und Religion fragt.