Denkanstoß WS 2007-2008
Studieren und lernen – Einblicke aus jüdischer Tradition
Landesrabbiner Dr. h.c. William Wolff, Schwerin
Als ich vor beinahe dreißig Jahren mein fünfjähriges Rabbinerstudium anfing, gab es nur eines, wovor ich mich beinahe fürchtete: die vielen Stunden des Bibelstudiums. „So langweilig“ sagte ich mir. Wenige Wochen später gab es nichts, auf das ich mich mehr freute als die zwei oder drei Bibelstudium-Vorträge oder -Seminare in der Woche: „So völlig faszinierend“ sagte ich mir. Und wie es vor beinahe dreißig Jahren war, so bleibt es bis zur Stunde an der ich diese Worte schreibe. Es gibt für mich nichts Faszinierenderes als dieses 2500 Jahre alte Buch - es können hin und wieder noch etliche hun-dert Jahre zum Alter gewisser Teile der Bibel dazukommen, wie zum Beispiel zum 5. Buch Mose, das aus dem Jahre 621 vor dem christlichen Zeitalter stammt – die Bibelwissenschaft hat dieses Datum ganz genau etabliert. Selten freue ich mich auf etwas mehr, als die Vorbereitung meiner wöchentlichen Vorlesung aus den fünf Büchern Mose im jüdischen Sabbatgottesdienst.
Wer hat denn dieses Buch geschrieben, oder lieber diese Bücher, denn die Bibel ist ja ein Kollektiv und das Produkt eines Kollektivs. Sogar die fünf Bücher Mose haben mindestens vier oder fünf Autoren – und das bedeutet nicht einen Autor pro Buch, so klar, logisch und einfach ist es eben nicht. Dank Julius Wellhausen, diesem Riesen unter den Bibelwissenschaftlern, der von 1872 bis 1882 hier in Greifswald als ordentlicher Professor des Alten Testaments lehrte, und dessen bahnbrechende „Geschichte Israels: Prolegomena“ (heute unter dem Titel „Prolegomena zur Geschichte Israels“ beim Verlag de Gruyter zu haben) hier in Greifswald 1878 zum ersten mal erschien, wissen wir heute WANN die Bibel, und besonders die fünf Bücher Mose - die für einen Juden bis zum heutigen Tag noch das größere Interesse als alle anderen Bücher der Bibel haben, weil sie die 613 Gebote enthalten – geschrieben wurden. Aber wir wissen nach bald dreitausend Jahren immer noch nicht WER sie geschrieben hat. Wer waren diese Autoren? Die Eröffnung neuer Bahnen in diese Richtung bedarf eines neuen Wissen-schaftlers vom Format Wellhausens - vielleicht findet sich einer unter denen, die in diesem Herbst ihr Studium hier anfangen. Es besteht für mich überhaupt kein Grund, warum dies nicht so sein könnte.
Es gibt so viele Seiten der Bibelwissenschaft – die grammatische und sprachliche, die gesellschaftliche und anthropologische, die geschichtliche, die literarisch-erzählerische, die theologische, die bis heute noch Berge an Erz enthalten, aus denen noch große Schätze des Wissens zu gewinnen sind. „Für den Gottesgelehrten ist es ein Zeichen großer Weisheit“, so schrieb Cyrill, der einen bewegten Lebenslauf als Bischof von Jeru-salem im 4. Jahrhundert hatte, „seine Unwissenheit einzugestehen.“
Dann gibt es die dringende Notwendigkeit, alte Erkenntnisse neu zu präsentieren. Schiller und Shakespeare kann man nicht in moderne Sprache umschreiben ohne ei-nen literarischen Mord zu begehen. Mit der Präsentation der Wissenschaft ist es oftmals anders. Wissenschaftliche Erkenntnisse können einem neuen Publikum in heutiger Sprache neu vorgestellt werden. Das verlangt ganz besonders die Bibelwissenschaft, speziell in einem säkularen Zeitalter und nach einem traurigen Geschichtsabschnitt in dem die ideologische Herrschaft im Osten Deutschlands und in ganz Ost Europa versuchte, nicht ganz ohne Erfolg, Bibel und Bibelwissenschaft aus der Kulturlandschaft zu entfernen.
Eines dieser Themen ist die Theologie der fünf Bücher Mose, das Gottesbild, das für die Schriftsteller dieser fünf Bücher – die nicht die frühesten oder ersten Bibelbücher waren, trotz ihrer Stellung in der Bibel – Grundlage, bewusst oder unbewusst, und Ausgangspunkt war. An der Existenz eines Gottes hatten diese Autoren und die Persönlichkeiten, die sie darstellen, überhaupt keinen Zweifel. Das war für sie selbstverständlich. Also bestand für sie keine Notwendigkeit, wie für Philosophen eines sehr viel späteren Zeitalters, „Gründe“ oder „Beweise“ dieser Existenz zu präsentieren. Das wäre für sie eine Zeitvergeudung gewesen. Für sie war Gott ein selbstverständlicher Ansprechspartner.
Sie waren auch keine systematischen Denker wie ihre griechischen Zeitgenossen. Die Systematik verdanken wir der griechischen Kultur. Aus der hebräischen stammt die Erfahrungstheologie, eine Theologie, die aus Erzählungen heraustrat. Die alten Israeliten hatten eine Vorstellung von Gott, die in ihrer persönlichen und später auch in der kollektiven Erfahrung, die wir auch Geschichte nennen, ihres Stammes und Volkes tief verankert war. Ein Teil der Aufgabe der Bibelwissenschaft waren immer und bleiben bis zum heutigen Tag die Einsichten und Gotteserfahrungen der alten Israeliten systematisch zu präsentieren.
So fangen wir mit Abraham an. Für ihn war Gott erstens ein Wesen, dessen Vorschläge als Befehle betrachtet werden mussten und dem daher Gehorsam gebühre. „Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.“ So steht es am Anfang des 12. Kapitels des ersten Buches Mose. „Da zog Abram aus“ lesen wir drei Sätze später, „wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm.“ Abraham entwurzelte sich also, tauschte ein festes, beständiges und regelmäßiges Leben ein gegen die Unsicherheit und die drückende Heimatlosigkeit eines Nomaden, eines Asylanten, nur weil Gott es ihm befohlen hatte. Die Befehle Gottes mussten eben nach seiner Auffassung ausgeführt werden, ohne Widerspruch und manchmal auch mit Widerspruch – aber ihnen musste ein Mensch blindlings gehorchen.
Darin verwoben liegt auch eines der fundamentalen Probleme der menschlichen Beziehung zu Gott bis zum heutigen Tage: Wie kommunizieren wir mit Gott? Der jüdische Religionsphilosoph Moses Ben Maimon, auch Maimonides genannt (oder in den rabbi-nischen Schriften als Rambam, Abkürzung von Rabbi Moses Ben Maimon, bekannt) der am 30. März 1135 in Cordova geboren wurde und am 13. Dezember 1204 in Fostat bei Kairo starb und in Tiberias begraben wurde, war der einzige Gelehrte in der jüdischen Tradition, der darauf bestand, dass, wenn die Bibel davon spricht, was sie unzählige Male tut, dass Gott mit Abraham, Moses oder sonstigen Figuren „sprach“, er keineswegs Laute hören liess, die als Worte zu erkennen waren. Denn Gott hatte und hat keine körperliche Form. So kann und konnte er niemals „sprechen“ so wie ein Mensch mit Zunge und Stimmbändern spricht. Im 65. Kapitel des ersten Bandes seines Hauptwerkes More Newuchim —„Führer der Verirrten“ sagt Maimonides klipp und klar „Wir dürfen nicht annehmen dass beim „Sprechen“ Gott sich einer Stimme oder sonstiger Laute bediente, noch dass er eine Seele hat, in der „Gedanken“ sich formulieren…“ Wenn die Bibel immer wieder schreibt „der Herr sprach“ dann bedeutet dies nur, dass Gott seine Wünsche, Erkenntnisse und Vorhaben seinen Ansprechspartnern wortlos und direkt in die Seele hinein kommunizierte, so meinte Maimonides. Heute würden wir sagen: Er hat sich eines „direkten Drahtes“ bedient.
Zweitens war Gott für Abraham nicht nur ein befehlendes Wesen, sondern auch ein Gesprächspartner, mit dem man reden konnte, und der auch darauf eingeht, was man zu Ihm sagt. So in der besonders bewegenden Szene zwischen Gott und Abraham im 18. Kapitel des ersten Buches Mose, des Buches Genesis. Dort stellte Abraham Gott zur Rede und beschuldigte ihn unverblümt eines ungerechten Vorhabens. „Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?“ fragt er ihn direkt (Gen. 18, 25).
Gott hatte Abraham mitgeteilt, dass er die Städte Sodom und Gomorra zerstören wollte, weil „ihre Sünden sehr schwer sind.“ Das missfiel Abraham erheblich. Das Vorhaben schien ihm weder ausgewogen noch differenziert und daher nicht gerecht. „Willst Du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?“, war seine Herausforderung an Gott. „Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest Du die um-bringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären?“ Das leuchtete Gott ein. „Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben.“ So ermutigt, begann Abraham mit Gott zu handeln. In einem Hin und Her, dass so spannend wie bewegend war, und von Abraham so gewagt wie geschickt, drückte er Gott herunter auf zehn Gerechte. Aber anscheinend waren dort nicht einmal zehn zu finden, denn am Morgen „ging ein Rauch auf vom Lande wie der Rauch von einem Ofen.“ Und Sodom und Gomorra mit all ihren Einwohnern waren vertilgt.
In seinen ständigen Auseinandersetzungen mit Gott war aber Moses die Figur, die nicht nur vorbildlich war und bis heute unübertroffen bleibt. Denn schon in seiner ersten Begegnung mit Gott war er keineswegs gewillt, sich Gottes Willen blindlings und ohne Weiteres zu fügen. Die enge, oftmals stürmische und sogar streitlustige Partnerschaft zwischen den beiden begann schon mit einem harten Wortgefecht. Mit achtzig Jahren hatte Moses endlich ein ruhiges und geregeltes Leben, war aber noch nicht im Ruhestand, sowie auch mancher heutige Rabbiner, und kümmerte sich um das nicht geringe Vieh seines Schwiegervaters. Mit seinen Schafen war er unterwegs in der Steppe, als er plötzlich einen Dornbusch sah, der brannte, aber doch nicht verzehrt wurde. (Ex. 3). Moses war nicht weniger neugierig als die meisten seiner Mitmenschen, damals und heute, und ging auf den Dornbusch zu um zu sehen, ob er sich getäuscht hätte oder was denn da sonst los war. Dann kam eine Stimme aus dem brennenden Busch. Sie befahl ihm stehen zu bleiben und seine Schuhe auszuziehen, „denn der Ort darauf du stehst, ist heiliges Land.“ Moses gehorchte und ehe er sonst etwas erwidern konnte, stellte die Stimme sich mit großer Höflichkeit vor. „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, und der Gott Jakobs.“ Und Moses wusste, mit wem er es zu tun hatte.
Dann teilte Gott ihm sein Anliegen mit. Er hatte die Not der Israeliten in Ägypten gese-hen und sich entschieden, sie zu befreien. Aber er benötigte einen menschlichen Vertreter. „So geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit Du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst“ sagte er. Moses erschien es, als ob Gott mit diesem Anliegen an die falsche Adresse gekommen sei, er persönlich hatte nichts dafür übrig. So kam es zu seinen kreativen und in den meisten Fällen gut begründeten Ausreden.
Die Erste war ein Produkt seiner Bescheidenheit. „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und die Israeliten aus Ägypten führe?“ fragte er. Gott wies diesen Einwand sofort zurück. „Ich will mit dir sein“ versicherte er Moses. Und das müsste ihm genügen. Moses war aber keineswegs beeindruckt. So kam sein zweiter Einwand: „Wenn die Israeliten fragen, wie heißt denn dieser Gott, was soll ich ihnen antworten?“ Darauf folgt eine der zwei Selbst-Enthüllungen Gottes in den fünf Büchern Moses. „Ehejeh ascher Ehejeh“ auf Hebräisch. „Ich bin, der ich bin“ oder „Ich werde sein, der ich sein werde.“ Das genügt dem erfinderischen und zweifelnden Moses immer noch nicht. Was bedeutete denn dieses „Ehejeh ascher Ehejeh“? wollte er hören. Dass Moses abwarten musste, um in einer ungewissen Zukunft zu erfahren, wer dieser Gott nun eigentlich sei – so wie wir heute immer noch nicht ganz im Klaren darüber sind? Kurz darauf folgt der vierbuchstabige Namen Gottes, aber nichts Weiteres über sein Wesen. Somit kommt nun der dritte Versuch eines Auswegs. Die Kinder Israels werden mir nicht glauben, nörgelt er zu Gott. Auf diesen Einwand geht Gott des Längeren ein und verschafft Moses die Mittel, die zweifelnden Israeliten zu überzeugen – mit drei Wundern, die er als Mensch vorführen sollte: seiner Haut, die er von einer Sekunde zur anderen von Reinheit zu Ausschlag und zurück verwandeln sollte; Wasser, das er in Blut verwandeln konnte; und einen Stab, den er durch ihn auf die Erde werfen zur Schlange machen konnte, und die Schlange zum Stab. Trotzdem wollte Moses immer noch nicht die Mission des irdischen Erlösers der Israeliten übernehmen. Er habe einen Sprachfehler, war sein vierter Einwand. Diesen ließ Gott auch nicht gelten. Dann kam Moses damit heraus – er wolle einfach nicht gehen. Nun hatte Gott genug. Er bestand darauf, dass Moses ging, aber versprach, seinen älteren Bruder Aaron mit ihm zu schicken. So hatte Gott das letzte Wort und Moses verlor diese hartnäckige Redeschlacht.
Aber seinen Mut und seine Kampfbereitschaft, selbst gegenüber Gott, verlor er nicht. Damit veränderte sich zum Schluss die ganze Beziehung, denn Moses fing nun doch an, die mündlichen Duelle zu gewinnen – in spektakulärer Form. Das war ganz besonders der Fall nach dem dramatischen Auszug aus Ägypten, als die Existenzschwierigkeiten in der Wüste sich vermehrten und besonders nachdem die Kinder Israel den unsichtbaren Gott verraten hatten und Aaron ihnen ein anschauliches und anfassbares goldenes Kalb zum Ersatzgott gestaltet hatte. Das war dem wahren und unsichtbaren Gott zu viel und er war bereit, die Israeliten in der Wüste zu vertilgen und ein neues Volk mit Moses zu gründen.
Das schmeichelte Moses nicht, sondern entsetzte ihn. Da er Gott zu nichts zwingen konnte – insofern war die Beziehung immer eine ungleiche – blieb ihm nur eines übrig: Er musste versuchen, Gott zu überzeugen. Und nun erwies Gott sich als überzeugbar, sogar durch Argumente die durchaus menschlich waren. „Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst.“ Moses fügte ein Erinnern an das Versprechen hinzu, den Nachkommen von Abraham, Isaak und Jakob das Land Kanaan als ewigen Besitz zu schenken. Und die beiden Argumente waren ausschlaggebend. „Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte“ sagt das zweite Buch Moses ganz schlicht (Ex 32,14). Darin steckt eine wichtige theologische Behauptung: dieser Gott kann seine Vorhaben auf Bitte von Menschen ändern.
So hatte Moses sein neues Volk gerettet. Das änderte seine ganze Beziehung zu Gott. Denn er hatte eine große Willens- und Überzeugungsschlacht mit diesem Gott gewonnen. Aber nun musste Moses seine neu errungene Macht auskosten. Denn Gott teilte ihm mit, dass er von nun ab nicht mehr mit den Israeliten mit durch die Wüste ziehen würde – „denn Du bist ein halsstarriges Volk; ich würde dich unterwegs vertilgen.“ Gott würde nur einen „Mal’ach“ dem Volk voran schicken. Dieses hebräische Wort „Mal’ach“ bedarf einer langen Untersuchung. Martin Luther übersetzt es hier als „Engel“ – der große jüdische Gelehrte des 19. Jahrhunderts, Leopold Zunz, im Übrigen auch. „Engel“ ist aber ein Wort, das verschiedentlich ausgelegt werden kann – darüber gibt es einen hohen Stapel Abhandlungen. Hier scheint mir eine dem hebräischen Text besser an-gemessene Übersetzung von „Mal’ach“ das Wort „Botschafter“ oder „Vertreter“ zu sein, ein Wesen, das nicht Gott ist, aber mit der Autorität Gottes spricht und handelt.
Ein Mal’ach genügte Moses aber nicht. Ein Mal’ach war ihm viel zu vage. „Du sagst zu mir: Führe das Volk hinauf und lässt mich nicht wissen, wen Du mit mir senden willst.“ So geht das nicht, machte er Gott klar. „Woran soll erkannt werden, dass ich und dein Volk vor deinen Augen Gnade gefunden haben, wenn nicht daran, dass du mit uns gehst …“ Sofort gab dieser Gott, der sich überzeugen lies, wieder nach und gestand: „Auch das, was du jetzt gesagt hast, will ich tun ...“ (Exodus 33,17).
Nun wuchs das neue Selbstbewusstsein von Moses zum Übermut. Wenn sein Wille sich durchsetzten konnte, so oft wie Gottes Wille, dann müsste die ganze Beziehung auf eine andere Ebene gebracht werden, in der er Gott so gut kannte wie Gott ihn zu kennen schien. Das war also sein nächstes Verlangen: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen.“ Und damit wollte er eine Grenze überschreiten, über die bis zum heutigen Tag kein Mensch hinweggeschritten ist. Zu diesem Bereich gibt es keinen Pass. “Mein Angesicht kannst Du nicht sehen“ wies Gott den übermütigen Moses zurück, „denn kein Mensch kann mich anschauen und weiter leben.“ Dann, ohne seine Grundeinstellung zu ändern, wollte er doch etwas versöhnlicher sein. „Siehe, da ist ein Platz bei mir, da stelle ich dich auf den Felsen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorüber geht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Handfläche über dir halten, bis ich vorüber gezogen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun und du wirst mein Rücken sehen, aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“ (Ex 33,22) Kein Mensch. Und ohne jemandem in die Augen zu schauen, kann man ihn oder sie niemals genau kennen. Etwas über einen Menschen, so gar vieles, kann man von hinten her erfahren. Jeder der mich persönlich von hinten sieht, weiß sofort dass ich ein Mann bin, alt und klein und keineswegs ein Athlet. Also leicht zu überfallen, sollte sich das lohnen. Zuschauer können auch von hinten sehen, dass ich mein Geld nicht für die neueste Mode ausgebe. Nach der Beerdigung meines Zwillingsbruders, der Germanist war, sagte mir eine ehemalige Studentin von ihm: „Ich wusste sofort, wer Sie waren, als ich Sie von hinten den Hauptgang der Aula nach vorne gehen sah. Es war etwas an Ihrem Gang.“ Aber um etwas über meinen Charakter, und meiner Seele zu erfahren, muss man schon mein faltiges Gesicht sehen.
Somit scheint mir diese freimütige Unterhaltung zwischen Gott und Moses die wichtigste theologische Stelle der ganzen hebräischen Bibel zu sein. Sie sagt uns, dass wir viel über Gott ausfindig machen können – durch die Schriften von Exegeten, Theologen und Philosophen, die nun sich schon über zweitausend Jahre und mehr hinstrecken und auch durch das Leben und Lehren von manchen, ausgewählten, sogenannten „heiligen“ Menschen. Wir können vieles, das genau so wichtig und manchmal noch wichtiger ist, über Gott erkennen, indem wir die Zufälle in unserem eigenen Leben näher anschauen, in dem wir unsere eigenen Erfahrungen öfters überprüfen, und ganz besonders hin und wieder mal tief in unsere eigenen Seelen hinein blicken. Das kann uns sehr viele Einsichten bringen. Aber alles über Gott zu wissen, das kann weder Philosoph noch Theologe, so genial sie auch sein mögen, das kann kein Mensch auf dieser Erde.
Wir können auch viel über Gott erfahren und somit den Verlauf unseres eigenen Lebens ändern, durch einen ständigen Dialog mit Gott, so wie wir es nicht nur bei Moses und Abraham, sondern auch bei vielen anderen biblischen Figuren sehen, einen Dialog, der in heutiger Sprache meistens unter dem Wort „Gebet“ bekannt ist. Dieses Wort wird oftmals mit einer zu engen Bedeutung ausgestattet. „Gebet“ ist viel mehr als eine Bitte. Es kann des Öfteren zu einer Selbsterkenntnis führen, die aus der Tiefe unserer Seele heraus sprudelt. Es kann auch der Anfang eines seelischen Austausches sein, der unser Leben tief beeinflusst.
Wir müssen uns aber vor einem Fehlschluss hüten. Es gibt nämlich Theologen die behaupten, dass Gott nur Bedeutung hat durch seine Beziehung zu uns Menschen, dass wir Menschen für die ganze Gott-Idee unerlässlich sind. Das lässt sich nicht aus dem, was ich hier geschrieben habe und schon gar nicht aus den fünf Büchern Moses, in der jüdischen Tradition auch Torah genannt, oder aus den weiteren Büchern der hebräischen Bibel ableiten. Die Beziehung zu Gott ist für Menschen gewiss unerlässlich und Menschen, die sich dieser Beziehung nicht bewusst sind oder sie sogar verneinen, sind seelisch armseliger als Menschen, welche diese Beziehung pflegen. Wie ungeheuer die Bereicherung einer Gott-Beziehung sein kann, können wir an der Geschichte von Josef sehen. Er ist eines der Riesen des Buches Genesis und ihm werden in 14 Kapiteln dieses ersten Buches der Bibel mehr Aufmerksamkeit gewidmet als irgendeiner der Urväter -Abraham sind nur 12 Kapitel gewidmet. Trotzdem spielt er weder im Judentum noch im Christentum die große Rolle, die ihm nach seinen geistigen Errungenschaften gebühren würden. Über das Wesen Gottes hat er sich, vom biblischen Text zu urteilen, kaum Gedanken gemacht. Für ihn war die Rolle Gottes in seinem Leben einfach selbstverständlich. Seine Beziehung zu Gott hat ihm dahingegen nicht nur die seelische Kraft verliehen, um Rückschläge zu widerstehen, die andere Menschen zermalmt hätten. Diese Beziehung hat es ihm ganz besonders ermöglicht, sich von einem verwöhnten, eingebildeten und auch zeitweilig gleichgültigen Jüngling zu einem Mann zu entwickeln, mit beispielhafter und beneidenswerter seelischer Größe. Als er Herrscher unter Pharao in Ägypten und möglicherweise über weitaus größere Gebiete Nordafrikas und des Nahen Ostens war, und er sich seinen Brüdern nach jahrzehntelanger Trennung zu erkennen gab, denselben Brüdern, die versucht hatten ihn umzub-ringen, hatte er nur ein Bestreben. Er wollte sie vor Vorwürfen und jeglicher Selbstqual beschützen. „Bekümmert euch nicht“, sagte er ihnen, „und denkt nicht, dass ich darum zürne, dass ihr mich hierher verkauft habt. Denn Gott hat mich vor euch hergesandt ...“ (Gen 45,5) Mit diesem „Gott hat mich voraus gesandt“ hat er seine Brüder von Schuld und, so hoffte er, von schweren Schuldgefühlen befreit. Damit bewies er eine innere Größe und Großzügigkeit, die direkt aus seinem Glauben stammten und die sich nur die wenigsten Personen in Geschichte oder Literatur erworben haben. Seine enorme Großzügigkeit, die ihn zu einer seelischen Riesengestalt machte, entstand aus seiner Gottesbeziehung, in seinem Fall zu einem Gott in seiner Rolle als Schicksalslenker. Dies ist nur ein Beispiel aus der Bibel wie die Beziehung zu Gott es menschlichen Seelen erlaubt zu wachsen und sich zu entwickeln in einer sonst beinahe unvorstellbaren Weise.
Das schließt aber keineswegs aus, dass Gott andere Funktionen hat, zum Beispiel in Beziehung zu der Natur, zu Tieren, zum Weltall, die mit uns Menschen wenig oder nichts zu tun haben. Ich kann Anwalt und Vater sein und besonders wenn meine Kinder klein sind, haben sie keine Ahnung von meiner Tätigkeit als Anwalt. Ich kann Kunstsammler sein und die Kunsthändler mit denen ich ständig in Verbindung stehe, brauchen nicht zu wissen, ob ich auch Ehemann, Börsenmakler oder Privatgelehrter mit geerbtem Vermögen bin. Wie wir Menschen, so kann auch Gott viele Rollen haben. Diejenigen die mit Ihm in einer Rolle zu tun haben, brauchen nicht unbedingt etwas von den anderen Rollen zu wissen oder zu verstehen. Die Bibel handelt hauptsächlich von seiner Rolle in Beziehung zu uns Menschen. Diese Beziehung ist so alt wie die Menschheit, ob geschaffen oder durch Evolution entwickelt, und so maßlos vielfältig wie die tausende Millionen von Menschen, die bisher diese Erde bewohnt haben. In der Erkundung eines Bruchteils dieser Vielfalt beruht die endlose Faszination des Bibelstudiums.