SS 2015
Kirche im Kapitalismus: Stütze des Systems oder kritische Instanz?
Gekürzte Fassung eines Vortrages zur Eröffnung des Semesters.
Dr. Ellen Ueberschär, 1. April 2014, Theologische Fakultät Universität Greifswald
Ein Gedankenspiel: „Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern Kirche im Kapitalismus“ anstelle der „Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern Kirche im Sozialismus.“ Kann ein solches Gedankenspiel mehr als eine fixe Idee sein? Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern Kirche im Kapitalismus. Ein solcher Satz wäre heute genau so heftig umstritten, wie die ursprüngliche, auf den Sozialismus gemünzte Aussage.
Der Verfremdungseffekt von der Kirche im Kapitalismus verspricht insofern Erkenntnisgewinn, als dass es um die Kirche in politischen und ökonomischen Systemen geht und nicht um die Systeme selbst.
Klärungen sind nötig: Es ist erstens zu klären, was mit dem griffigen Satz einer Kirche im Sozialismus gemeint war und sodann soll gefragt werden, ob das, was heute in Deutschland ökonomisch und politisch vorhanden ist, als Kapitalismus zu bezeichnen wäre und später dann, wo genau Kirche sich in diesem so oder so definierten Gebilde wiederfinden ließe. Und ganz nebenbei wird die Frage, was Kirche eigentlich ist und tut, gestellt.
Kirche im Sozialismus – woher stammt dieser Gedanke? Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob die Formel Kirche im Sozialismus vom Staat übergestülpt und von opportunistisch gesinnten Kirchenführern aufgegriffen wurde (1), oder ob sie Ergebnis innerkirchlicher Überlegungen war (2) . Dass sie bis zum Ende der DDR umstritten blieb, spricht dafür, dass weder das eine noch das andere wirklich zutrifft.
Kirche im Sozialismus war kein Bekenntnis. Ortsbestimmung sollte es sein im Sinne der Anerkennung der Legitimität des Sozialismus als Projekt eines gerechteren Zusammenlebens und der Legalität des Regimes als Obrigkeit. Der Sog, den die griffige Formulierung ausübte, der Missbrauch, der durch die DDR betrieben wurde, die Kritik, die nach dem Fall der Mauer an den Schöpfern der Formulierung laut wurde – all das qualifiziert den Satz als Größe einer „Geschichte, die noch qualmt“, um das geflügelte Wort der Historikerin Barbara Tuchmann aufzugreifen, einer Geschichte, die noch nicht abgegolten ist.
Fragt man heute Menschen, die damals in der Kirche der DDR aktiv waren, so findet man eigentlich niemanden, der die Formulierung noch für angemessen hält. Menschen, die damals aktiv waren und heute kirchenleitend sind, charakterisieren die Kirche im Sozialismus als ein ‚Übel‘ und Heino Falcke resümierte im Deutschlandfunk: "So wurde diese Kurzformel von der SED als Anpassungsformel der Kirche in der sozialistischen Gesellschaft missbraucht und diese Zweideutigkeit blieb an dieser Kurzformel haften."(3)
Kirche im Sozialismus sollte kein Bekenntnis sein, wirkte aber so. Nach dem Ende des staatlich organisierten Sozialismus stellte sich als problematisch heraus, was ursprünglich pragmatisch gedacht war – der Gebrauch des Begriffes Sozialismus. Die Verständigungs-Probleme stellten sich ein, als deutlich wurde, dass der Gegensatz von Sozialismus und Kapitalismus in das Vokabular derjenigen gehörte, die dem Sozialismus als Gegenentwurf zum Kapitalismus etwas abgewinnen konnten und allein durch den widerborstigen Gebrauch des Wortes Kapitalismus die Legitimität des sozialistischen Projektes als einer gerechteren Gesellschaft zu retten versuchten. Andere wiederum begutachteten die DDR-Christen pauschal als Träger typisch protestantischer, antikapitalistischer Leitvorstellungen.
Nun rächte es sich, dass man mit der Übernahme des Sozialismus-Begriffes, ohne die Folgen eingepreist zu haben, auch die marxistische Kapitalismusinterpretation eingekauft hatte. Die Subsumierung aller marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftsformen mit den Hauptmerkmalen des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln und einer nicht staatlich gelenkten Wirtschaftsplanung unter einem Begriff allein wäre nicht schlimm, wenn sie nicht einherginge mit geschichtsphilosophischen, ja geschichts-teleologischen Grundannahmen über den Untergang der marktorientierten Ökonomie und der gesetzmäßigen Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus.
Angekommen im Kapitalismus?
In der Bundesrepublik hatten und haben es sich die Kirchen abgewöhnt, von Kapitalismus zu sprechen. Das Mitschwingen der marxistischen Untergangs-Konnotation einerseits und die Unschärfe, ob ein ökonomisches Modell oder ein politisches System gemeint ist, andererseits, haben dazu geführt, dass sich die Begriffsschöpfung Alfred Müller-Armacks, die „Soziale Marktwirtschaft“ vollständig durchgesetzt hat.
Unter den Bedingungen nahezu idealer Religionsfreiheit und freundlicher Religionspolitik verwenden die sich für das Gemeinwohl verantwortlich fühlenden Kirchen in Deutschland passenderweise nicht ein Wort, das tendenziell auch das Sozialstaatsmodell in Frage stellt. Die Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft enthebt die Kirchen scheinbar der ideologischen Gefechte in dem Land, das die Systemgrenze mehr als 40 Jahre durchschnitten hatte. Die Entscheidung, nicht von Kapitalismus zu sprechen, hat auch damit zu tun, dass christliche Wirtschafts- und Sozialethik das Privateigentum nicht in Frage stellt. Das ermöglicht eine einfache Rechnung: Kritik an ökonomischen Fehlentwicklungen – ja. Kritik an den sich verschärfenden Macht- und Eigentumsverhältnissen – nein.
Wer eine aktuelle Ortsbestimmung der Kirchen im wirtschaftlichen System der Bundesrepublik sucht, kann die jüngst veröffentlichte Sozialinitiative beider großer Kirchen zu Rate zu ziehen.
„Als nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland die Soziale Marktwirtschaft begründet wurde, war es das Ziel, ‚das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden‘ (Alfred Müller-Armack). Dieses Ziel hat Deutschland ein hohes Maß sowohl an wirtschaftlichem Wohlstand als auch an sozialer Stabilität beschert.“(4) In bewussten Rekurs auf die Anfänge der Bundesrepublik, ja schon fast in einer Art Beschwörung des nach 1945 gefundenen Konsenses nimmt die Sozialinitiative bei Müller-Armacks Definition ihren Ausgangspunkt. Sie tut das auch deswegen, weil damit der politische Platz der Kirchen gleichsam mitdefiniert ist: Die Staatsbezogenheit hat jedenfalls im Protestantismus ihren Ursprung im Gedanken der „wechselseitigen Bedingtheit von Staat und Kirche“, so Kurt Nowak. Beide arbeiten – in je unterschiedlichen Gestaltungssphären – an derselben Aufgabe, der Herstellung und Erhaltung des Gemeinwohls. Entfernt klingt hier die lutherische Lehre von den zwei Herrschaftsweisen Gottes an - der weltlichen und der kirchlichen, die aufeinander bezogen bleiben, aber getrennt sind.
Wie ein Finale am Ende einer großen Sinfonie wird am Ende der kirchlichen Stellungnahme von einer gleichsam höheren Warte aus bekräftigt, was eingangs vorausgesetzt war: „Diese Verbindung von Freiheit und marktlichem Wettbewerb einerseits und einem System des sozialen Ausgleichs und der Solidarität andererseits ist mehr als eine spezifisch deutsche Wirtschaftsverfassung, sondern ein moralisch begründetes Sozialmodell, das tief in der europäischen Kultur wurzelt. Diese Kultur Europas ist ganz wesentlich durch das Christentum geprägt worden.“ (5) Ist das die Kirche im Kapitalismus?
Als gäbe es noch die Systemkonkurrenz, legen die Kirchen ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft, zu einem Gesellschaftsmodell ab, das den Kirchen weitreichende Freiheiten und Gestaltungsspielräume gewährt. Das europäische Modell, das eigentlich nur in Deutschland und Skandinavien richtig gut zu funktionieren scheint, wird in einen Bekenntnisrang erhoben, der es unlöslich mit der historisch verifizierten Prägekraft der christlichen Kultur verbindet.
Nicht um einen problematischen Vergleich zu machen, und Diktaturen mit Demokratien zu verwechseln, sondern um die politisch-gesellschaftliche Positionierungen des Protestantismus herauszuarbeiten, könnte probehalber der Gedanke verfolgt werden: Die Aussage des DDR-Kirchenbundes, Kirche im Sozialismus schlicht zu sein, und damit Legitimität und Legalität des politischen Systems anerkennend, wird im Jahr 2014 unter ganz anderen Vorzeichen weit übertroffen.
Das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft ist eine starke Aussage, in der besten aller möglichen Welten zu leben und andererseits das Unmögliche – die gerechte Gesellschaft – nicht aus dem Blick zu verlieren. Es bleibt legitim, an der Idee eines gerechteren Zusammenlebens festzuhalten, diese aber an die Erwartung einer verbesserlichen, sozialen Marktwirtschaft zu knüpfen.
Es hat Gründe, dass die Kirchen meinen, sich politisch-ökonomische Kritik nicht mehr leisten zu können. Wie zur Überwindung kognitiver Dissonanzen wird die Überlegenheit und Krisenfestigkeit des Modells Soziale Marktwirtschaft geradezu beschworen. Das bundesdeutsche Modell wird in gewisser Weise abgekoppelt vom übrigen Kapitalismus. Nur um diesen Preis der Differenz ist das Umschiffen der Systemkritik zu haben, der Kritik daran, dass die Marktlogik auch in Deutschland in Bereiche greift, in denen sie nichts zu suchen hat. Aber dieser Käse hat Löcher.
Während die Kirchen versuchen, einen bröckelnden Konsens zu beschwören, kommt anderswo der Begriff Kapitalismus wieder in Mode. Seit der großen Finanzkrise wird, um den Ernst der Lage zu skizzieren, wieder von Kapitalismus gesprochen. Die Beobachtung Karl Marx‘ von 1848, der Kapitalismus überwinde große Krisen durch das Anzetteln noch größerer Krisen anstatt Geld in die Vermeidung derselben zu stecken, gewinnt neue Plausibilität. Roger de Weck, früherer Chefredakteur der ZEIT und als Schweizer Bankiers-Sohn sozialistischer Ambitionen unverdächtig, ging 2010 der Frage nach: Gibt es einen anderen Kapitalismus?
Das Wort Kapitalismus wird auf neue Weise in den Diskurs eingeführt, der nicht nur von außen in das Land dringt. Aber er kommt auch aus Rom und aus Genf. Die römisch-katholische Kritik an den ökonomischen und sozialen Weltverhältnissen war schon früher schärfer und klarer als die inländische. Insofern steht Papst Franziskus mit Evangelii Gaudium in bester kapitalismuskritischer Tradition. Mit seinem programmatischen Text kritisierte er im November 2013 die „Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel.“ (6) Der reformierte Weltbund hat schon 2004 den status confessionis ausgerufen mit seinem „Nein zur gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung, wie sie uns vom globalen, neoliberalen Kapitalismus aufgezwungen wird.“ (7)
Kapitalismus – allein das Wort enthält eine Systemkritik, der viele etwas abgewinnen können, die der Allherrschaft des Marktes nicht mehr tatenlos zusehen wollen. Der Verlust der Systemalternative hat den Begriff des Kapitalismus scheinbar vom Verdacht befreit, die Systemfrage zugunsten des Sozialismus zu stellen. Den Weg der Systemkritik zu gehen, scheuen sich die deutschen Kirchen. Warum? Schnappt hier auch die Bewusstseinsfalle volkskirchlicher Tradition zu? Greift hier das, was Kurt Nowak den protestantischen Gouvernementalismus, also die Staatsbezogenheit der evangelischen Kirche genannt hat? Bei der Kirche im Sozialismus bestand die Bewusstseinsfalle darin, die Frage nicht zu stellen, ob denn der Staat überhaupt ein Staat im Vollsinn war und nicht eine auf militärische Macht gestützte Herrschaft einer kleinen Oligarchie.
Für die Kirche, die sich zur Sozialen Marktwirtschaft bekennt, stellt sich die Frage, ob die Kirche noch das ist, was die volkskirchliche Tradition imaginiert – eine durch Körperschaftsstatus gestützte staatsförmige Institution, die sich stellvertretend für das Volk mandatiert sieht, ihre Gemeinwohl-verpflichtung wahrzunehmen. Orientiert sich eine institutionell schwächer werdende Kirche an einem geschwächten Staat und verpasst möglicherweise ihre Chancen, zivilgesellschaftliche Bündnisse zu schließen? Das staatsförmige Kleid, das die Kirchen tragen, ist zu weit geworden. Und der Ton, den sie anschlagen, ist möglicherweise zu hoch für die gesellschaftliche Position, in die die Kirchen inzwischen de facto, wenn auch nicht de jure, geraten sind.
Das Gedankenspiel von der Kirche im Sozialismus - Kirche im Kapitalismus hat dazu beigetragen, Kontinuitäten protestantischer Selbstverständigung über die politischen Systeme hinweg zu erkennen.
Für die Zukunft der Kirche in einer freiheitlichen Demokratie wird es nötig sein, Modelle dafür zu entwickeln und auszuprobieren, wie Kirchen politiknah, aber staatsfern existieren können. Und: Die Kirchen müssen ihre Position im Markt – jenseits des Staat-Kirche-Verhältnisses - mutig definieren, ohne sich der Marktlogik zu unterwerfen. Als zivilgesellschaftliche Akteure, die nicht für sich, sondern für Andere nach Maßstäben biblischer Gerechtigkeit handeln, werden sie attraktive Bündnispartner sein und das Wort Kapitalismus in den Mund nehmen, wenn es nötig ist, um dem Gedanken einer gerechteren Gesellschaft Gehör zu verschaffen.
(1)Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition der DDR 1949-1989, Berlin, 1998, S. 175
(2) Vgl. Richard Schröder in: Die ZEIT, 9/1992
(3) Michael Hollenbach, Die Rolle der Kirche im Sozialismus. Der Weg der Protestanten bis zur Friedlichen Revolution, Deutschlandradio Kultur, Beitrag vom 28.11.2009 um 16:05 Uhr
(4) Evangelische Kirche in Deutschland und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, Hannover/Bonn, 2014, S. 20
(5) Ebd., S. 59
(6)Papst Franziskus (Anm. 2), S. 54
(7) Reformierter Weltbund, Generalversammlung Accra, in: Wirtschaften für das Leben! Handreichung zur Diskussion über Gerechtigkeit, ACK (Hg), Frankfurt am Main, 2011, S. 12