SS 2019

Ethik der Nächstenliebe: Eine theologische Annäherung an die Care-Ethik

PD Dr. Michael  Coors

1. Christliche Moral zwischen Freiheit und Nächstenliebe
Die Frage, welches Verständnis von Moral theologische Ethik hat, zeigt sich in der Regel exemplarisch daran, auf welche philosophischen Referenzentwürfe sie sich bezieht. Eine breite Strömung evangelischer Ethik hat im 20. und 21. Jahrhundert christliche Moral vom Freiheitsbegriff ausgehend verstanden. Der Kern evangelischer Ethik ist dann die Reflexion einer „Lebensführung aus Freiheit“ (R. Anselm). Diese Form ethischer Reflexion sucht sich ihre philosophischen Gesprächspartner in denjenigen philosophischen Traditionen, die den modernen Freiheitsbegriff systematisch entfalten – z.B. in der an Kant anknüpfenden Diskursethik eines Jürgen Habermas, mit dem sich Trutz Rendtorff immer wieder auseinandersetzte. Ziel einer so verstandenen theologischen Ethik kann dann z.B. sein, die unterschiedlichen Güter, zu denen sich das freie menschliche Subjekt reflektierend verhalten muss, als geschichtliche Wirklichkeiten zu rekonstruieren (Anselm).

Indes liegt es aus theologischer Perspektive nahe, nachzufragen, ob bei der Charakterisierung christlicher Moral als Lebensführung aus Freiheit nicht eine Verkürzung droht: Denn auch wenn der erste Satz von Luthers Traktat über die Freiheit eines Christenmenschen lautet „Ein hristenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand Untertan“, so wäre die Kernaussage Luthers doch erheblich verkürzt, wenn man den zweiten Satz wegließe – „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan.“ Anders gefragt: Bei aller notwendigen Betonung der Freiheit eines Christenmenschen – wo bleibt das höchste Gebot, wo das christliche Ethos der Nächstenliebe? Die Pointe von Luthers Freiheitsschrift ist eben nicht allein das Leben des Christenmenschen aus Freiheit, sondern auch die Freiheit zur Liebe und damit zum Dienst am Nächsten.Fragt man nun allerdings nach einem philosophischen Gesprächspartner für eine Ethik der Nächstenliebe, dann fehlt dieser auf den ersten Blick. Der amerikanische Philosoph Nicholas Wolterstorff hat in seiner Monographie „Justice in Love“ darauf hingewiesen, dass es eine philosophische Tradition des Agapismus – also einer Ethik, die auf dem Begriff der Liebe (gr. agape) aufbaut – nicht gibt. Wolterstorff selbst greift dann im Zuge seiner Ausführungen auf den englischen Begriff „care“ zurück, um den christlichen Begriff der Liebe zu interpretieren und weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass es hier einen Nähe zu der philosophischen Perspektive der Care-Ethik geben könnte, geht dem aber nicht weiter nach.

2. Care-Ethik
Bei der Care-Ethik handelt sich um eine in der deutschen theologischen Ethik bisher wenig zur Kenntnis genommenen Bewegung, die häufig unter der Großbewegung feministischer Ethik subsumiert wird. Dass dies so geschieht hat mit den Anfängen der Care-Ethik zu tun, wird aber dem Anliegen derselben letztlich nicht gerecht. Vielmehr bietet die Care-Ethik einen genuin eigenen Ansatz zum Verständnis menschlicher Moralität, der – so meine These – eine hohe Ähnlichkeit zum christlichen Ethos der Nächstenliebe aufweist. Als Begründerin der Care-Ethik gilt Carol Gilligan, die
als Schülerin von Lawrence Kohlberg schon in den 1970er Jahren eine kritische Perspektive auf dessen Arbeiten entwickelte, die sie dann 1982 in ihrem Buch „In a different Voice“ publizierte. Kohlberg ging in seinen Arbeiten von einem dezidiert kantischen Moralbegriff aus: Moral besteht für ihn in der Fähigkeit, moralische Urteile zu bilden, und das Ziel moralischer Bildung ist die Fähigkeit, seine eigenen Urteile vor dem Horizont von  universalen Prinzipien zu überprüfen, deren Gültigkeit wiederum eingesehen wird. Gilligan störte sich zunächst v.a. daran, dass Mädchen in Kohlbergs Studien zur Entwicklung der moralischen Urteilsbildung tendenziell schlechter abschnitten als Jungen: Sie kamen in der von Kohlberg definierten Stufenfolge der Moralentwicklung nicht über das sogenannte konventionelle Stadium hinaus. Darum stellte Gilligan die Frage, ob die Perspektive auf die Moralentwicklung, die Kohlberg einnahm, nicht eine spezifisch männliche sei, die die Eigenständigkeit weiblicher  Moralentwicklung übergehen würde. Die „andere Stimme“ (different voice), die Gilligan also in die Debatte einbringen will, ist die Stimme der Frauen. Die Behauptung, dass Frauen grundsätzlich eine andere Form der Moralität entwickeln als Männer, wurde für die Rezeption von Gilligans Arbeit verhängnisvoll: Zum einen führte sie zu der einseitigen Einordnung der Care-Ethik als eine Form feministischer Ethik, zum anderen lässt sich die Behauptung einer spezifisch weiblichen Moralität empirisch nicht valide nachweisen und Gertrud Nunner-Winkler hat diese These dann auch in etlichen empirischen Studien widerlegt. Eine Kritik Gilligans allerdings, die allein auf diesen Aspekt fokussiert, übergeht das eigentlich weiterführende an ihrer Arbeit, nämlich, dass sie ein alternatives Verständnis von Moral skizziert, das sowohl für Männer als auch für Frauen Relevanz hat. So haben Philosophinnen wie Nel Noddings, Joan Tronto, Virigina Held und in Deutschland Elisabeth Conradi das in der Arbeit von Gilligan skizzierte Konzept eines Verständnisses einer Moral der Sorge (engl. care) zu einem eigenständigen ethischen Konzept weiterentwickelt.

Die zentrale Beobachtung von Gilligan liegt darin, dass die unterschiedlichen Moralverständnisse, die Kohlberg in seinen empirischen Studien identifiziert, überhaupt erst vor dem Hintergrund des von ihm definierten Verständnisses von Moral in eine Stufenfolge gebracht werden. Gilligan hingegen geht davon aus, dass sich hier mindestens zwei unterschiedliche Verständnisse von Moralität gegenüberstehen, die nicht einfach als unterschiedliche Stufen einer Entwicklung anzusehen sind: Auf der einen Seite steht ein Moralverständnis, das nach abstrakten und allgemeinen Regeln des richtigen Handelns fragt (nennen wir dies ein prinzipienbasiertes Moralverständnis), und auf der anderen Seite ein Moralverständnis,
dem es primär um Sorge-Beziehungen und um das verantwortliche Verhalten in Beziehungen geht. Das prinzipienbasierte Moralverständnis legt
dabei den Akzent auf eine kognitive Distanzierung von den konkreten Lebensvollzügen – darum spricht z.B. auch der theologische Ethiker Johannes Fischer voneiner desengagierten Vernunftethik –, während das an Sorge-Beziehungen orientierte Moralverständnis nach einer Gestaltung der konkreten Beziehungen verlangt. Das dabei zugrundeliegende Verständnis von Sorge-Beziehungen entfaltet Nel Noddings in ihrem
Buch „Caring“: Das Urbild der Sorge-Beziehung ist die natürliche Beziehung der Mutter zu ihrem Kind. Menschen leben von Anfang an in Sorge-Beziehungen, insofern sie als Kinder Umsorgte sind und als Empfänger*innen von Sorge lernen, was Sorge positiv bedeutet. Die natürliche Sorge-Beziehung der Mutter zum Kind bildet für Noddings die vormoralische Grundlage für moralische Sorge-Beziehungen. Die positive Wahrnehmung vormoralischer Sorge-Beziehungen bildet die Grundlage dafür, dass die Sorge für andere als moralisches Ideal wahrgenommen wird, das dann auch in Situationen, in denen Sorge-Beziehungen sich nicht natürlich einstellen, ein moralisches Gefühl der Verpflichtung zur Sorge hervorruft,
wenn jemand meiner Sorge bedarf.

Hier gibt es Berührungspunkte zur neueren, auch kognitions- und neurowissenschaftlichen Empathie-Forschung (z.B. von Jean Decety): Die Grundlagen der Empathie als Vermögen der Einfühlung sind offen-sichtlich in der Physiologie des menschlichen Gehirns angelegt. Diese natürlichen Fähigkeiten sind aber nur die präreflexiven Voraussetzungen für Empathie, denn dass die Fähigkeit des Mit- und Nachempfindens
zur Grundlage einer positiven Sorge-Beziehung wird, dafür bedarf es einer kulturellen Formung dieser natürlichen Fähigkeiten (wie z.B. Fritz
Breithaupt in seinem Buch „Kulturen der Empathie“ ausführt). Ähnlich argumentiert Noddings: Sorge für Bedürftige ist ein ethisches Ideal, das in vormoralischen Sorgebeziehungen wie eben der Sorge der Mutter für ihr Kind angelegt ist. Sorge gründet in einer natürlichen, vorreflexiven Reaktion auf die Verletzlichkeit und Bedürftigkeit des anderen. Darum ist das Fühlen einer moralischen Verpflichtung zur Sorge auch etwas anderes als das Befolgen einer abstrakten moralischen Fürsorge-Pflicht. Es geht nicht darum, einer äußeren, wenn auch kognitiv eingesehenen Verpflichtung zu folgen, sondern es geht um ein Verpflichtungsgefühl, das aus dem emotionalen Sich-Einlassen auf die konkrete Situation entsteht, in der man sich von der Verletzlichkeit des bzw. der anderen berühren lässt. Doch diese empathische Reaktion auf die Verletzlichkeit des anderen kann blockiert oder auch gefördert werden, wie Breithaupt festhält. Sie kann auch in die Irre führen – es gibt überempathische Fehlschlüsse
– und es ist auch nach Grenzen der moralischen Verpflichtungen zu fragen, die aus der empathischen Wahrnehmung erwachsen. Genau das ist die Aufgabe konkreter ethischer Reflexion auf Sorge-Beziehungen. Dabei wird man auch nach ethisch begründeten Regeln und Prinzipien fragen müssen. Es ist daher m.E. konsequent, dass die Diskussionen innerhalb der Care-Ethik den strikten Gegensatz zwischen einer Sorge-basierten
und einer Prinzipien-basierten Ethik inzwischen überwunden haben. Gilligan selbst hat den von ihr ursprünglich sehr strikten Gegensatz in einem Aufsatz 1993 z.T. revidiert: Entscheidend ist für die Perspektive einer Sorge-Ethik, dass die innere Verpflichtung zur Sorge Grundlage der Moralität ist. Das kognitive Urteil ist Präzisierung, die aber als solche notwendig ist. Der wesentliche Punkt auf den die Sorge-Ethik hinweist, ist, dass Moral nicht in kognitiven Urteilen aufgeht, sondern sich in Beziehungen vollzieht und in der Fähigkeit der emotionalen Wahrnehmung der Verletzlichkeit des bzw. der Anderen gründet.

3. Ethik der Nächstenliebe als Sorge-Ethik?
Die Vermutung, dass Nächstenliebe eine Form der Sorge-Beziehung zu anderen ist, liegt nahe: Auch Vertreterinnen der Care-Ethik haben diese Nähe gesehen und darauf meist mit – m.E. vorschneller – Ablehnung reagiert, vermutlich, um die Unabhängigkeit der Care-Ethik von religiöser Prägung zu betonen. Die theologische Tradition hat den christlichen Liebesbegriff über viele Jahrhunderte hinweg als eine Tugend im Sinne der aristotelischen Tugendlehre verstanden. Die Liebe zählte mit dem Glauben und der Hoffnung zu den drei Tugenden, die nicht durch Übung erworben werden konnten, sondern die von Gott dem Glaubenden mit dem Heiligen Geist eingegossen werden mussten. Im 20. Jahrhundert deuteten Theologen wie Kierkegaard, Nygren oder Niebuhr die Liebe als eine besondere Mildtätigkeit, als Güte, die dem anderen mehr gibt als ihm von Rechts wegen zusteht. Christliche Liebe in diesem Sinne steht dann zum gerechten Handeln z.T. im Widerspruch, oder zumindest im Anspruch der Überbietung. Diese Definitionen von Liebe führen in die lang geführte Diskussion über das Verhältnis von Gerechtigkeit und Liebe hinein, die hier nicht auszuführen ist. Anstatt mich auf diese Diskussionen einzulassen, will ich hier nur auf einige exegetische Beobachtungen verweisen, die für eine Nähe einer Ethik der Nächstenliebe zur Care-Ethik sprechen, die aber auch Differenzen sichtbar werden lassen. Dafür beziehe ich mich auf Oda Wischmeyers Studie „Liebe als Agape“. Sie rekonstruiert aus den unterschiedlichen Texten und Traditionen des Neuen Testaments Grundlinien eines neutestamentlichen Konzepts von Liebe.

Die Parallelen dieses Liebes-Konzeptes zur Care-Ethik sind schnell benannt:
- „Das neutestamentliche Konzept von Liebe ist ein Beziehungskonzept“ (Wischmeyer: 149). Das gilt eindeutig auch für den Sorge-Begriff der Care-Ethik.
- „Die tragenden Metaphern sind der Lebenswelt der Familie entnommen: Vater und Sohn sowie Brüder“ (Wischmeyer: 129): In der Care-Ethik war es die Beziehung der Mutter zum Kind, in dem patriarchalen Kontext des Neuen Testaments sind es eher die männlichen Beziehungen.
- Insbesondere die Metapher der Liebe des Vaters zu seinen Kindern, die auf die Beziehung Gottes zu den Menschen zielt, bildet eine gewisse (aber nur partielle) Parallele zum Urbild der Beziehung Mutter-Kind in der Care-Ethik.
- Das christliche Liebeskonzept und das Sorge-Konzept verbinden die Vorrangigkeit der Widerfahrnis: So wie wir zunächst als Umsorgte im Blick sind, sind wir im Rahmen des neutestamentlichen Liebesverständnisses zu-nächst als (von Gott) Geliebte im Blick.
Damit ist allerdings auch zugleich die Grenze der  Analogie zwischen Care-Ethik und christlicher Ethik der Nächstenliebe angesprochen: Während das Urbild der Care-Ethik die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind ist, dient das Bild von der Sorge des Vaters für seine Kinder in den Texten des Neuen Testamentes lediglich als Plausibilisierungsnarrativ, das auf das eigentliche Urbild gelingender Liebe verweist, nämlich die Liebe Gottes zum Menschen, die sich in der Hingabe Jesu – als des geliebten Sohnes des Vaters – realisiert. Die „Form der Hingabe des eigenen Lebens als des höchsten Ausdrucks der Liebe bildet zweifellos das theologisch-christologische Zentrum des gesamten neutestamentlichen Liebeskonzepts. Hier im innergöttlichen Bereich ist die Grundform der Liebe vor-geformt und vorerlitten“ (Wischmeyer: 153).

4. Fazit
Nächstenliebe, so möchte ich bilanzieren, ist eine Form der Sorge-Beziehung, ganz im Sinne der Care-Ethik: Sie ist, mit den Worten von Frits de Lange, „eine am Wohlergehen anderer, um ihrer selbst willen orientierte Sorge“ (47), die von Gefühlen begleitet und aus Gefühlen motiviert sein kann, die aber auch aus Verpflichtung heraus geschehen kann. Sie steht nicht im Widerspruch zur Freiheit eines Christenmenschen, sondern sie markiert das Ziel, in dem sich christliche Freiheit verwirklicht. Das heißt anders herum, dass die Sorge für den Nächsten immer auch die Freiheit dieses Nächsten zu respektieren hat.

Anders als es für den Care-Begriff gilt, ist die christliche Liebe zum Nächsten aber in zwischenmenschlichen Sorge-Beziehung immer nur bruchstückhaft abgebildet. Sie versteht sich nie von selbst – auch nicht in der Beziehung der Mutter oder des Vaters zum Kind, denn auch diese können Scheitern. Die Verwirklichung der Liebe unter Menschen ist immer nur bruchstückhaft, orientiert an einem Ideal göttlicher Liebe zum Menschen, das gerade diese Bruchstückhaftigkeit menschlicher Liebe aushält und auszuhalten ermöglicht.

Literatur (Auswahl)
Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie, Frankfurt a.M. 52017.
Gilligan, Carol: In a Different Voice. Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge u.a. 1982.
Lange, Frits de: Loving later life. An ethics of aging, Grand Rapids/Cambridge 2015.
Noddings, Nel: Caring. A relational approach to ethics and moral education, Berkley u.a. 22013.
Wolterstorff, Nicholas: Justice in Love, Grand Rapids/Cambridge 22015.
Wischmeyer, Oda: Liebe als Agape. Das frühchristliche Konzept und der moderne Diskurs, Tübingen 2015.