WS 2010/2011

Die Gustaf-Dalman-Sammlung und die Fundamente der Theologie

Prof. Dr. Julia Männchen

 

Nach dem 2. Weltkrieg und der Schoah hat es noch einige Zeit gedauert, bis die Kirche begann, über ihr Verhältnis zum Judentum nachzudenken und noch länger, bis die wiss. Auseinandersetzung mit dem Judentum einen Platz in den Universitäten fand. So wundert es nicht, dass Gustaf Dalman um 1900 schrieb, ein theologischer Lehrstuhl für die Beziehungen zwischen Christentum und Judentum, so nötig er wäre, weil diese Arbeit niemand nebenher leisten könnte, sei nirgends vorhanden. Er selbst wäre der geeignete Mann dafür gewesen, denn schon als Student und Dozent im Theologischen Seminar der Brüdergemeine in Gnadenfeld/Schlesien und auch dann in Leipzig als Prof. für Altes Testament an der Universität und Dozent am Institutum Judaicum bei Franz Delitzsch hatte er sich intensiv mit diesem Thema befasst. Davon zeugt noch heute die eine große Abteilung der Bibliothek der Gustaf-Dalman-Sammlung.

In der Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des Gustaf-Dalman-Instituts 1995 hat Thomas Willi unter dem Titel „Stummes Zwiegespräch“ die Hebraica und Hebraistica, die Judaica und Judaistica der Bibliothek vorgestellt. An erster Stelle steht die „schriftliche Tora“, die hebräische Bibel, die wir Altes Testament nennen. Dazu kommt die „mündliche Tora“, die Auslegung und Anwendung der Tora auf das tägliche Leben. In dieser Abteilung der Bibliothek finden sich fast drei Dutzend Erstdrucke aus dem 16. Jh. – zweifellos ein Schatz, gemessen an der Seltenheit und dem Alter der Bücher, wenn man das in bare Münze umrechnet. Es folgen jüdische Gebetbücher und Predigten, Lehrbücher für den jüdischen Religionsunterricht im 19. Jh. und Abhandlungen über die verschiedenen Strömungen im Judentum im 19. Jh., Darstellungen der jüdischen Geschichte, des jüdischen Volks- und Geisteslebens, Abhandlungen über die zionistische Bewegung. Es gibt eine Abteilung „Judenmission“ und eine unter dem Stichwort „Antisemitismus“. Und auch die Rubrik „Judentum und Christentum“ ist bis in die Anfänge des 20. Jh. hinein von dem Thema Antisemitismus bestimmt.

Die überwiegende Zahl der Bücher trägt den Vermerk „Geschenk der Gustaf-Dalman-Stiftung“. Wir wissen bis heute nicht – und werden es vermutlich auch nicht mehr erfahren – wann und unter welchen Umständen Dalman diese Bücher erworben, diese Bibliothek aufgebaut hat. 1925, zu seinem 70. Geburtstag, hatten Kollegen und Freunde aus aller Welt Geld gesammelt für das Gustaf-Dalman-Institut Greifswald, das damals gerade fünf Jahre alt war. Daraus entstand die Gustaf-Dalman-Stiftung, die 1940, als Dalman nach Herrnhut zog, die Bibliothek und die Sammlungen, von denen noch zu reden sein wird, käuflich erwarb.

Was aber hatte Dalman bewogen, gerade eine solche Bibliothek aufzubauen? Er war christlicher Theologe, Privatdozent für Altes Testament an der Universität Leipzig von 1891 – 1902, außerordentlicher Professor für Altes Testament in Greifswald von 1917 – 1923 und als solcher noch lange über diese Zeit hinaus tätig. Handelt es sich also hier um das Hobby, das Spezialgebiet eines ohne Zweifel etwas skurrilen und eigenbrötlerischen Gelehrten?

Dalman kam von der Judenmission her und hatte in Leipzig neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität am Institutum Judaicum Theologen auf die Arbeit in der Judenmission vorbereitet. Dazu war seiner Meinung nach eine gute Kenntnis des Judentums die erste Voraussetzung. So stand die Lektüre des Talmud ebenso auf dem Programm des Instituts wie die Geschichte des Judentums, die Beschäftigung mit jüdischer Literatur und mit jüdischem Gottesdienst. Über die Berechtigung von Judenmission wird bis heute sehr scharf kontrovers diskutiert. Um begründete Argumente anzuführen – dafür oder dagegen – benötigt man aber fundierte Sachkenntnis.

Ein anderes Stichwort, das in der Bibliothek eine ganze Abteilung umfasst, ist leider nach wie vor aktuell: der Antisemitismus. In den 80er Jahren des 19. Jh. erschienen eine Reihe von Schriften, in denen – scheinbar wissenschaftlich fundiert und mit vielen Zitaten belegt – z.B. behauptet wurde, dass das geltende jüdische Recht den Mord an Christen sanktioniere. Solche und ähnliche Vorwürfe konnte kaum jemand nachprüfen, geschweige denn widerlegen, da sie nicht nur die Beherrschung des Hebräischen sondern auch eine gründliche Kenntnis von Talmud und Midrasch und von späteren jüdischen Gesetzeskorpora erforderten. Dalman hat sich dieser Aufgabe gestellt. Er konnte es, hat aber damit zugleich deutlich gemacht, dass es nicht genügt, dem Antisemitismus mit Philosemitismus zu begegnen, dass vielmehr Sachkenntnis erforderlich ist, um Vorwürfe und Anschuldigungen zu entkräften. Das gilt bis heute, auch wenn die antisemitischen Äußerungen heute anders lauten.

1898 erschien Dalmans Buch „Die Worte Jesu mit Berücksichtigung des nachkanonischen Schrifttums und der aramäischen Sprache erörtert“. Im Vorwort schreibt er, dass die treibende Kraft für seine frühe Beschäftigung mit rabbinischer Literatur der Wunsch war, die Welt, in der Jesus lebte, sich „gegenständlich“ zu machen. Er hatte das Buch nur als Anfang umfangreicherer Studien geschrieben und deshalb im Untertitel als Band I - Einleitung und wichtige Begriffe - bezeichnet. Seine Berufung nach Jerusalem im Jahre 1902 als erster Direktor des neugegründeten Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes unterbrach seine Arbeit für mehr als 20 Jahre. Erst 1922 erschien die Fortsetzung, die ursprünglich den Titel „Jesus und das Judentum“ tragen sollte, nun aber „Jesus – Jeschua“ hieß. „Jesu Person, wie wir sie griechisch kennen, wie sie sich unter „Hebräern“ ausnahm, ist das eigentliche Problem“. In den „Worten Jesu“ hatte er hinter der griechischen Fassung des Neuen Testaments die mögliche sprachliche Urform der Worte Jesu finden wollen. Jetzt ging sein Blick sehr viel weiter, über das Philologische hinaus, obwohl der erste Teil von „Jesus – Jeschua“ den Titel trägt: Die drei Sprachen (gemeint sind natürlich die drei Sprachen Jesu) – Griechisch, Hebräisch, Aramäisch. Auch vor die folgenden Überschriften kann, ja muss man immer „Jesus“ setzen: Jesus – in der Synagoge, Jesus – der Bergprediger, Jesus – beim Passahmahl, Jesus - am Kreuz. Genau genommen handelt es sich bei dem Buch um eine Kommentierung neutestamentlicher Texte von der rabbinischen Literatur her wie im folgenden Beispiel: Zu Jesu Anwendung von Psalm 22,2 (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) kann man heranziehen, wie Ester nach einem Midrasch an den drei von ihr angeordneten Fasttagen (Est 4,16) sich verhielt. Am ersten Tag betete sie „Mein Gott!“, am zweiten wiederum „Mein Gott!“, am dritten „Warum hast du mich verlassen?“. Als sie schließlich mit lauter Stimme rief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? – wurde sie sofort erhört. Schon in Leipzig hatte Dalman Einleitung in die rabbinische und mittelalterliche jüdische Literatur, Vorlesungen über die messianischen Erwartungen der Juden zur Zeit Jesu und in den kanonischen und nachkanonischen Schriften des Alten Testaments und über Jesus Christus in der jüdischen Literatur angeboten. Erst recht konzentrierte er sich in Greifswald, vor allem nach seiner Emeritierung 1923, auf solche Themen wie „Jüdische Gleichnisse und die Gleichnisse Jesu“, „Der Mischnatraktat Pesachim im Vergleich zum Passahgesetz und dem letzten Mahl Jesu“, „Der Mischnatraktat Berakkot mit Hinzunahme der ältesten jüdischen Formulargebete und Vergleichung des Vaterunsers“. Die jüdischen Wurzeln des Christentums, der christlichen Theologie standen ihm nicht nur ständig vor Augen, die Beschäftigung damit war für ihn ein unverzichtbarer Bestandteil seiner theologischen Arbeit. Das war um 1900 und noch geraume Zeit danach ungewöhnlich. Unter der Rubrik „Christentum und Judentum“ finden sich in der Bibliothek aus dieser Zeit hauptsächlich Titel zum Antisemitismus. Ein Ansatz, wie Dalman ihn vertrat, passte nicht in die theologische Landschaft.

Die zweite große Abteilung der Bibliothek der Gustaf-Dalman-Sammlung steht unter der Überschrift: „Palästinakunde“. 1902 war Dalman zum ersten Direktor des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem ernannt worden. Er hätte gern an Ausgrabungen teilgenommen, aber der Vorstand der Stiftung des Instituts wollte, dass er sich ganz der Institutsarbeit widmete, die darin bestand, jedes Jahr einen dreimonatigen Lehrkurs für Pfarrer und Universitätstheologen aus Deutschland zu halten, bei dem sie das Land kennenlernen sollten. Eigentlich kann man nur froh über diese Entscheidung des Institutsvorstandes sein, denn auf diese Weise hat Dalman ein Feld bearbeitet, was so außer ihm keiner bearbeitet hatte – die Palästinakunde. Archäologen gab es dagegen viele.

Das Ergebnis seiner Forschungen liegt vor in seinem Hauptwerk „Arbeit und Sitte in Palästina“, 7 Bände von über 3000 Seiten, dazu postum erschienen, der 8. Band als Ergänzung. Der Titel sagt eigentlich schon, worum es geht „Arbeit und Sitte…“

Die Titel der einzelnen Bände sind noch konkreter, wobei man sich aber möglicherweise fragt, wie man sich auf 350 Seiten über den Ackerbau verbreiten kann. Es geht dann weiter von der Ernte zum Mehl und bis zum fertigen Brot, wozu noch Öl und Wein kommen. Ein Band befasst sich mit der Herstellung von Kleidung und schließlich geht es um das nomadische Leben im Zelt und um das Leben im Haus und den Hausbau.

Das Ganze beginnt mit einer ausführlichen Schilderung der Jahreszeiten und des Tagesablaufs und macht deutlich, wie man Palästina erlebt und buchstäblich am eigenen Leib erfährt hat in Kälte und Hitze, Regen und Dürre. Der Verfasser bemerkt dazu, dass er in keinem Winter so gefroren habe wie in seinem ersten in Jerusalem.

Der Sommer sieht da angenehmer aus: „Am 31. Juli 1921 ist bei Westwind fast kein Gewölk. Kein Tau fällt. Wolkenlos ist auch der 1. August bei Windstille. Am 15. und 16. August gibt es bei Westwind schweres Gewölk im Westen und wieder nach Osten ziehende, über der Wasserscheide sich auflösende Wolken, während die Abende wolkenlos sind. Dies alles bei Morgentemperaturen von etwa 21 Grad. Es folgte vom 27. bis 31. August eine wärmere Periode mit etwa 26 Grad Morgentemperatur und bis 45 Grad Mittagshitze, welche Leitungswasser in einem Metallrohr auf der Westseite des Hauses auf 53 Grad erhitzte.“ Auch wenn man noch nie in Jerusalem war, kann man sich aufgrund dieser (stark gekürzten) Beschreibung vielleicht eine Vorstellung machen. Das mag auch für die geradezu poetische (und wiederum stark gekürzte) Schilderung eines Sonnenunterganges am 10. Dezember 1908 gelten. „Der Himmel war wolkenlos, die Luft dunstfrei, so dass das ganze Randgebirge des Ostlandes sich im Süden bis zu der Gegend des einstigen Edomiterlandes verfolgen ließ, wo es hinter den Südbergen der judaischen Wüste verschwindet. Um 4 Uhr 36 war für Jerusalem die Sonne untergegangen, um 4 Uhr 40 lagen hier die Schatten des Abends von der Ölbergkette bis hinab in die Senke vor der Randerhebung der nächsten Staffel zum Jordantal …Im Osten erglühte der ganze Abfall des Ostlandes in zartem Rot…am Fuß der Bergkette wird das Rot zu einem dunklen Violett, von dem sich der hellblaue Spiegel des toten Meeres dunkel abhebt. Sein Nordende, dessen ganzen Bogen man hier überblickt, hat einen stumpfen Ganz wie mattes Silber.“

Unter der Überschrift „Ackerbau“ wird dann zunächst der Acker als solcher beschrieben, und Dalman hat ihn nicht nur beschrieben, sondern auch mitgenommen, wie die verschiedenen Erdproben in den Petrischalen der Sammlung zeigen. Wie in den bereits zitierten Schilderungen des Wetters zeichnet sich das ganze Werk durch Detailfreudigkeit, ja Detailbesessenheit aus. Nur e i n Beispiel: Der Hacke kam auch nach der Erfindung des Pfluges noch immer große Bedeutung bei, deshalb werden 6 verschiedene Typen mit genauer Angabe von Zentimetern beschrieben. Das gilt ebenso für den Pflug, den es in noch mehr Varianten gibt, und jedes Modell muss anders gehandhabt werden. Der Verfasser hat es, wie überhaupt viele der beschriebenen Tätigkeiten (Brotbacken, Weben u.a.) selbst ausprobiert – mit unterschiedlichem Erfolg. „Dass der Pflüger sein Antreiben mit dem Ochsenstecken durch Rufe unterstützt, bedeutet einen beständigen Verkehr mit dem Pflugvieh…Dass ich mich auf solche Unterhaltungen nicht verstand, war wohl die Veranlassung, dass im Jahre 1900 ein Pflügeochse trotz meiner arabischen Gewandung mich durch Ausschlagen zum Pflügen unfähig erklärte.“

Präziseste Beschreibungen trifft man in dem Werk immer wieder, und man könnte die Gegenstände danach ohne weiteres nachbauen, wie z.B. das feine Getreidesieb, das die Aufgabe hat, „die Getreidekörner festzuhalten und kleinere Beigaben durchfallen zu lassen. Das Aussätzigenasyl bei Jerusalem hatte es in zwei Formen. Das gröbere mit 52 cm Durchmesser und 8 cm hohem Rahmen hat auf je 10 cm 20-26 rechtwinkling sich kreuzende gedrehte Darmfäden, etwa 2 Fäden auf 1 cm, das feinere mit 63 cm Durchmesser und 4,5 cm hohem Rahmen auf je 10 cm 29-34 Fäden, auf 1 cm 3-4 Fäden, also nur halb so große Öffnungen“.

Die Pflanzenwelt Palästinas – Bäume, Sträucher, Blumen, Nutzpflanzen – bezeichnete ein Rezensent als des Verfassers besonderen Liebling. Und es überrascht nicht, dass er auch hier mit größter Genauigkeit vorgeht und Standort der Blumen, Aussehen von Blättern, Stengeln und Blüten, Farbe der Blüten und Zeitpunkt des Blühens sowie die verschiedenen Bezeichnungen und die damit verbundenen Traditionen festhält, ohne dass man damit ein botanisches Lehrbuch vorgesetzt bekommt. Die Beschreibungen sind vielmehr oft auch ganz vom Erleben geprägt wie diese aus dem Frühling 1910 (gekürzt): „Wie blütenreich war diesmal unser schönes Land! Niemand von uns wird das bunte Tal… in Samarien vergessen, durch das wir am 19. März ritten. An der Spitze der Blumen stand hier der rosafarbene Flachs und der rotblaue Natterkopf. Purpurrot strahlten die Asiatische Ranunkel und zwei Arten der Adonis, purpurblau der bescheidene Ehrenpreis, dunkelblau die Cyane… Aus Felsritzen lugten Spätlinge des rötlichen Alpenveilchens. Wir gedenken aber auch der violetten, von Lupinen dicht besetzten Matten zwischen den Saatfeldern von Sebastie.“

Besondere Bedeutung hatten in Palästna die wildwachsenden essbaren Pflanzen. So verbirgt sich in dem Gesamtwerk ein ganzes palästinisches Kochbuch.

In einer Tabelle findet man 45 wildwachsende Pflanzen mit den lateinischen und arabischen Namen und den Angaben, wie sie gegessen werden: roh, als Salat mit Essig und Öl, gekocht oder nach vorherigem Kochen und Auspressen geschmort. Weitaus länger ist die Liste der angebauten Nutzpflanzen – 102 an der Zahl. Da heißt es zur Kichererbse beispielsweise: „Die halbreifen Körner werden roh verzehrt. Die reifen röstet man auf dem Backblech oder verzehrt sie befeuchtet und mit Salz vor dem Rösten gerührt, oder in Wasser gerührt, daß die Schale sich löst, oder 1 Tag in Wasser geweicht, ohne Salz gekocht, danach mit dem Holzschlägel zerstoßen und mit Salz, Zitronensaft, Öl und Lauch gewürzt, oder gemahlen und mit Weizenmehl gemischt als Würze für Brot dienend, mit Zuckerguß als beliebte Süßigkeit.“

Daneben werden 60 Sorten Brot aufgezählt (natürlich unter genauer Benennung der Zutaten und der Art der Herstellung), 24 Sorten Feingebäck, 6 Sorten Süßigkeiten. Man erfährt aber auch die Zubereitung von Fleisch und Fisch, die Herstellung von Butter, Quark und Käse und wie man Kaffee kocht.

Damit sind wir bei Tätigkeiten, die man ja per Foto nur als Momentaufnahme festhalten, aber nicht darstellen kann, auch nicht in einem Museum, jedenfalls damals nicht. Da gab es nur Beschreibungen wie z.B. die von der Gerstenernte. „Sobald die Gerste länger ist, nimmt man… stets die stumpfe Reißsichel … zu Hilfe. So sah ich es am 24. Mai 1925 … bei Jerusalem, wo ich selbst zugriff (er war 70!). Die 40-48 cm hohe Gerste umfaßte man mit der linken Hand von links, die rechte Hand griff mit der Reißsichel darunter nahe am Boden, wobei ein Sichbücken unumgänglich war, und riss die von der linken Hand umfassten Pflanzen heraus. Die linke Hand nahm sie nun in die Höhe und ließ von der rechten mit der Sichel die Wurzel abklopfen, so dass die Erde abfiel. Das unter den linken Arm geklemmte Getreidebündel … wurde dann mit einem oder mehreren von der rechten Hand herausgezogenen Halmen gebunden. Dabei sind beide Hände tätig, entweder so, dass die Sichel in der rechten Hand behalten wird, oder so, dass man sie unter den linken Arm klemmt.“

Heute würde man so etwas in einem Film zeigen, aber ohne entsprechende Verbalisierung könnte man es trotzdem kaum nachvollziehen, was umgekehrt – nach der Beschreibung – durchaus möglich ist. Ein letztes Beispiel soll das verdeutlichen (ebenfalls gekürzt). Es geht ums Brotbacken. Brot war zusammen mit Öl und Wein das wichtigste Nahrungs- und Genussmittel. Für die 60 schon genannten Sorten Brot gab es noch zu Beginn des 20. Jh. 6 verschiedene Backgeräte in insgesamt 12 Varianten, und jedes Mal musste das Backen anders erfolgen. „Das im Mehlsieb von der Kleie gereinigte Mehl wird spätabends von der Hausfrau in der grossen Teigschüssel … mit Wasser angerührt, dann in einzelnen Teilen auf ein mit Mehl bestreutes Tuch gelegt und mit Salz und Sauerteig vom letzten Backen durchgearbeitet. Der Teig … kommt nun zurück in die Schüssel, wird da nochmals durchgeknetet und zu runden Klößen geformt, die in einer zweiten Schüssel, mit einem Tuch zugedeckt, einige Stunden stehen müssen. Die Gehilfin beginnt das Werk, indem sie einen Teigkloß bei drehender Bewegung mit den Fingern beider Hände plattdrückt … und die platten Kuchen auf den Stein der anderen Frau legt. Diese vollendet das Plattmachen … durch Schlagen mit den Handflächen, welche dabei langsam den Kuchen drehen, legt dabei den Kuchen, welcher jetzt eine Größe von etwa 25 cm hat, über einen Arm und dehnt ihn durch Hinundherwerfen auf den entblößten Armen bis zu einer Größe von 40-50 cm Durchmesser. Den nun kaum 3 mm dicken Kuchen wirft sie im Schwung auf das Backkissen, führt ihn auf demselben in den tannur (Backofen) ein und klatscht … ihn gegen seine Wand, an der er hängen bleiben muß.“ Solche und ähnliche Beschreibungen – Gebrauchsanweisungen – finden sich zahlreich in dem gesamten Werk.

Sollte sich z.B. jemand ein Kleid nähen wollen könnte man ihm/ihr ein Schnittmuster mit Zentimeterangaben sowie den Vorgaben für die zu verwendenden Stoffe und Garne zur Verfügung stellen.

Genauso exakte Angaben gibt es für Zelte und Häuser und deren Einrichtungen. In den meisten der mehr als ein Dutzend von Dalman ausgemessenen Zelte hat er selbst auch übernachtet. Er schildert die fast überall vorhandene Trennung in Männer- und Frauenraum, wobei aber im Frauenraum geschlafen wird (natürlich auf der Erde) und deshalb tagsüber dort die „Schlafmaterialien“ liegen: dünne Matratzen und Decken. Man sitzt beim Essen und überhaupt natürlich auf dem Boden. Dafür gab es aber verschiedene Varianten, mit denen unterschiedliche Grade der Höflichkeit ausgedrückt werden konnten. Dalman selbst beherrschte diese Gepflogenheit – zum Erstaunen seiner arabischen Gastgeber – hervorragend und konnte somit ebenfalls aus eigener Erfahrung berichten. „Das Gewöhnliche ist, dass man sitzend die Füße vorn kreuzt und an den Körper heranzieht, wobei der etwas nach vorn gebeugte Oberkörper für arabische Empfindung ruht.“

Im Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem gibt es Kalksteinmodelle von Häusern, die nach Dalmans Angaben angefertigt wurden. In Bd. VII von „Arbeit und Sitte in Palästina“ verdeutlichen das an die 60 Grund- und Seitenrisszeichnungen der verschiedenen Haustypen. Dazu kommt eine allgemeine Zusammenstellung des „Hausgerätes“, unterteilt in Sitz- und Schlafgerät, Heiz- und Kochgerät, Ess- und Trinkgerät, Leuchtgerät, Waschgeräte und Vorratsgeräte. Insgesamt handelt es sich also durchaus um mehr als um Arbeit und Sitte, das Thema des Werkes ist Volks- und Landeskunde im weitesten Sinne.

Nun kann man sich natürlich fragen, was der Autor mit seiner Sammelleidenschaft, den detaillierten Aufzählungen und Schilderungen eigentlich bezweckte. Dass es ihm selbst Freude machte, merkt man auf jeder Seite.

In „Arbeit und Sitte“ sind unmittelbar in den Text eingearbeitet die arabischen Begriffe für alles, was beschrieben wird: Pflanzen, Tiere, Landschaftsformationen, Geräte, Wettererscheinungen, Arbeiten auf dem Feld und im Haus. Schon im Vorwort zu Band I, das zugleich ein Vorwort für das Gesamtwerk ist, schreibt Dalman, dass es bisher „an einer genügenden, auch die einschlägigen arabischen Ausdrücke berücksichtigenden Darstellung“ der in Palästina noch lebendigen Formen von Arbeit und Sitte fehlt. Nach Erscheinen von Bd. VII schrieb ein Rezensent: „Allein für den Erforscher der arabischen Dialekte Palästinas wird Dalmans Werk für immer eine unentbehrliche Fundgrube sein.“ So heißt z.B. der Jochzapfen zum Anschirren des Pfluges in Südpalästina anders als in Nordgaliläa, in Aleppo anders als im Libanon, im Adschlun anders als im Hauran oder in Damaskus. Dazu kommen in der Regel noch die hebräischen, aramäischen, mitunter auch griechischen Bezeichnungen, wiederum mit mehreren, örtlich bedingten Varianten.

Ein Gebiet, das meist nur in Verbindung mit anderen Themen zur Sprache kommt, ist der Volksaberglaube, der sich oft auch in Sprichwörtern niedergeschlagen hat. Da haben bestimmte Wochentage Glücks- oder Unglückscharakter, bestimmte Tages- und Nachtzeiten gelten als unheimlich, das Erscheinen bestimmter Tiere kann Glück oder Unglück bedeuten und es gab vielfältige Mittel, sich vor Dämonen zu schützen. Amulette und Schmuck spielten hier eine wichtige Rolle, oder das Kennzeichnen (Röteln) der Tiere mit roter Farbe, das in Hebron, Samaria und Galiläa am Freitag vor Ostern geschah, im Ostjordanland dagegen nach der Ernte, in anderen Gegenden nach dem letzten Regen. Auch das ist wieder nur ein winziger Ausschnitt aus einer Fülle von Material.

Dalmans Grundthese lautete, man kann die Texte der Bibel nicht verstehen, ohne das Land zu kennen, in dem sie sich ereignet haben.

So gibt es von Band II an nach jedem Kapitel einen Abschnitt „Im Altertum“, wo zum Tragen kommt, was Dalman selbst als Ziel und Zweck seiner Arbeit bezeichnet: Aufhellung der Geschichte Israels. Der Ackerbau interessiert eben auch, weil es geschichtlich bedeutsam ist, dass Israel ein ackerbautreibendes Volk wurde, nachdem es ein dazu geeignetes Land erhalten hatte. Und das Zelt war für ihn wichtig, weil es „die Wohnung der wandernden Erzväter Israels … und des Volkes Israel während des Zuges durch die Wüste war“.

Hier – in diesen Abschnitten „Im Altertum“ – erscheinen die Belegstellen bzw. die von Dalman kommentierten Stellen aus dem Alten und Neuen Testament, aus Talmud und Midrasch. Die Zahl der zitierten Bibelstellen umfasst 66 Seiten (dreispaltig), etwa 7500 Stellen, die der rabbinischen Zitate 62 Seiten (dreispaltig), etwa 5000 Stellen. Mitunter werden die Belegstellen einfach nur genannt unter Anführung der entscheidenden hebräischen Begriffe mit knappen Erläuterungen. Daneben gibt es aber auch ausführliche Erklärungen, die für das Verständnis eines Textes von grundlegender Bedeutung sind und das Werk zu einem wichtigen Lexikon für jeden Exegeten machen.

So gibt es Erläuterungen zu Genesis 18, dem Besuch der drei Männer bei Abraham. Abraham lässt Wasser bringen, damit die Gäste sich die Füße waschen können, und er lässt Brot backen und ein Kalb schlachten für die Gäste. Dazu heißt es: „Diese Bewirtung setzt eine Reihe von Zeltgeräten voraus, die, obwohl keine erwähnt werden, vorhanden sein mußten: ein Becken zum Füßewaschen, was im heutigen Orient nicht zur Gastfreundschaft gehört, auch weil mehr Schuhwerk getragen wird. Ein Behälter für Mehl und ein Maß zum Abmessen desselben; eine Holzschüssel zum Teigmachen, aber wohl kein Backgerät, weil die ugot (V.6) auf Kohle gebacken werden, vielleicht auch kein Gerät zum Herrichten des Fleisches, wenn es auf Kohlen geröstet wurde; eine Schüssel zum Vorsetzen desselben; Behälter für Milch und Butter und Schalen oder Krüge zum Vorsetzen und Trinken derselben.“ Ungesäuertes Brot erhalten selbstverständlich im Beduinenzelt die Gäste, da die Sitte gebietet, für sie frisch zu backen, auch wenn Brotvorrat genug vorhanden wäre. „Mein edler beduinischer Gastfreund … zwischen Aleppo und dem Euphrat sagte, man müsse sogar für jeden Gast besonders kneten und backen, um ihm die ihm zukommende Ehre zu erweisen, ähnlich wie Abraham für seine drei Gäste von drei Sea Brot backen ließ.“ Der Midrasch steigert die drei Sea zu neun Sea und redet zur Erklärung von dreierlei Herzustellendem: Brotkuchen, Süßbrei und Honiggebäck.“

Dazu noch ein Beispiel aus dem Neuen Testament. In Mt 15.2 par. fragen die Pharisäer Jesus: „Warum übertreten deine Jünger die Satzungen der Ältesten? Denn sie waschen ihre Hände nicht, wenn sie Brot essen.“ Dazu wird erläutert, dass das Alte Testament ein Händewaschen v o r der Mahlzeit nicht erwähnt. Mit diesem Händewaschen v o r dem Essen, das in Lev. 15.11 seine gesetzliche Begründung haben soll, hängt zusammen ein Händewaschen n a c h dem Essen, das nicht in derselben Weise Pflicht ist wie jenes, aber im Babylonischen Talmud ihm gleichgestellt wird. Nach Maimonides ist indes die sonst pflichtgemäße Benediktion, welche Gott als Gesetzgeber preist, nicht zu sprechen.“ Diese Beispiele stehen für viele andere und machen deutlich, was in diesem monumentalen Werk zu finden ist.

Die biblische Geschichte ist kein Schauspiel, das auf dem zufälligen Ort irgendeiner Bühne, die man auch durch eine andere ersetzen könnte, über die Bretter gegangen ist. Diese Geschichte ist untrennbar, wesensmäßig und gottgewollt mit diesem ganz bestimmten Land, seinen geographischen, klimatischen und landschaftlichen Bedingungen verbunden. Das Land als Ganzes ist erwählt zum Ausgangspunkt der Heilsgeschichte und damit eine theologisch qualifizierte Größe, ohne dass die Historizität oder „Heiligkeit“ bestimmter Orte und Plätze hervorgehoben oder bewiesen werden könnte oder sollte. So geht es dabei auch nicht um Grenzziehungen und Besitzansprüche. Aber der schmale Streifen Land zwischen Jordan und Mittelmeer in all seinen Erscheinungsformen und seiner Geschichte ist ein Fundament, auf dem christliche Theologie basiert und ohne das sie ihre Erdhaftung, den Boden unter den Füßen verlieren würde.

In diesem Land hat auch Jesus gelebt, in diesem Land liegen die Wurzeln des Judentums. Das ist der andere Pfeiler, auf dem christliche Theologie ruht und aufbaut. Gustaf Dalmans Werk und die Sammlung, die seinen Namen trägt, veranschaulicht die Fundamente christlicher Theologie.