WS 2018/19
Erinnerungen an Prof. Dr. Julia Männchen (1939-2018)
Prof. Dr. Christfried Böttrich, im Mai 2018
Am 1. Januar dieses Jahres 2018 verstarb Julia Männchen, emeritierte Professorin für Altes Testament, still und zurückgezogen in ihrer Greifswalder Wohnung. Am 1. Mai wäre sie 79 Jahre alt geworden. Ihr Lebenskreis nahm in den letzten Monaten nur noch wenig Raum ein. Doch das hinderte sie nicht, mit zahlreichen Freunden und Bekannten auch weiterhin einen regen Austausch zu pflegen. Zur Trauerfeier am 19. Januar war die Kirche St. Jakobi voll besetzt. Die Lieder, von Johannes Gebhard an der Orgel intoniert, führten Julia Männchen noch einmal vor Augen: “Morgenglanz der Ewigkeit”, “Ich bin ein Gast auf Erden”, “Von guten Mächten wunderbar geborgen”. Die Kollekte war, nach ihrem Wunsch, bestimmt für die Förderung der Synagoge in Rostock. Bischof Abromeit, der die Trauerfeier leitete, erinnerte an die vielfältigen Verdienste, die sich Julia Männchen vor allem um den christlich-jüdischen Dialog erworben hatte. Ich möchte noch einige persönliche Erinnerungen hinzufügen, die vor allem ihre Beziehung zu unserer Theologischen Fakultät betreffen, der sie über den langen Zeitraum von 50 Jahren hin eng verbunden war.
Als ich 2003 nach Greifswald kam, stand Julia Männchen kurz vor ihrer Emeritierung. Für mich verkörperte sie damals das Gedächtnis der Fakultät. Seit 1968, als sie von Leipzig nach Greifswald übergesiedelt war, hatte sie Vieles miterlebt und mitgestaltet und wusste “Erinnerung an Beer Sheva” von Julia Männchen (1939 - 2018) sehr lebendig davon zu berichten. Wenn es eines Rates oder einer Auskunft bedurfte, dann war sie zur
Stelle. Julia Männchen war eigentlich immer da. Man hörte im Haus stets den klackenden Anschlag ihrer Schreibmaschine – auch im neu anbrechenden Computerzeitalter. Es gab keine Fakultätsveranstaltung (weder Vortrag, noch Tagung, noch Uni-Gottesdienst, noch Studentenfest) – keine Veranstaltung, bei der Julia Männchen gefehlt hätte.
Ihre Emeritierung 2004 verstand sie als einen Aufbruch zu neuen Aufgaben. Voller Tatendrang widmete sie ihre Kraft nun der Leitung des Arbeitskreises “Kirche und Judentum”, dessen Vorsitz sie während der Zeit von insgesamt 17 Jahren (1998-2015) inne hatte, und kümmerte sich hingebungsvoll um die Gustaf-Dalman-
Sammlung.
Ich habe Julia Männchen immer als eine gesellige und heitere Kollegin erlebt, die das Gespräch und die Zusammenarbeit suchte. In ganz besonderer Weise gehörte ihr Herz den Studierenden. Das Studienhaus in der Steinstraße war für sie ein Ort, an den sie gerne kam. Sie ließ sich einladen, teilte mit den Studierenden ihr Zeitungsabonnement und nahm am Leben des Hauses regen Anteil.
Der Unterricht in modernem Hebräisch wurde nach der Wende zu ihrer neuen Leidenschaft. Sie reiste mit Lust
zu Sprachkursen nach Beer Sheva und gab in Greifswald weiter, was sie dort gelernt hatte. Selbst als ihr der Weg schon beschwerlich wurde, ließ sie es sich nicht nehmen, ihren Unterricht am Rubenowplatz anzubieten. Dass in den zurückliegenden gut 25 Jahren Greifswalder Studierende immer wieder erfolgreich an dem Programm “Studium in Israel” teilgenommen haben, verdanken sie vor allem der guten sprachlichen Vorbereitung durch Julia Männchen. Als der Weg dann gar nicht mehr zu bewältigen war, lud sie ihren Ivrit-Kurs zu sich nach Hause ein. Die Freude an der Sprache war ihr anzumerken – und vermittelte sich den Lernenden.
In den letzten beiden Jahren wurde ihr Lebenskreis zunehmend kleiner. Ich habe es immer wieder bewundert, mit welchem Willen und mit welcher Klarheit Julia Männchen den ihr verbleibenden Spielraum nutzte. Wann immer es ging, nahm sie noch an Veranstaltungen der Fakultät teil – im Krupp-Kolleg, im Studienhaus oder bei der traditionellen Gustaf-Dalman-Lecture. Gerne nahm sie die Hilfe an, die ihren Transport von A nach B betraf und verfolgte auch in Abwesenheit sehr aufmerksam das Leben “ihrer” Fakultät.
In der letzten Phase fiel ihr dann auch die Kommunikation zunehmend schwerer. Und doch haben wir uns noch bis in die Weihnachtstage hinein über ein letztes Projekt – gleichsam ihr Herzensanliegen – ausgetauscht: eine Geschichte des Gustaf-Dalman-Institutes. Drei Ordner mit Materialien stehen vor mir. Das begonnene Projekt wartet darauf, bei gelegener Zeit noch einmal in Angriff genommen zu werden. Der folgende Text, den Julia Männchen 2007 zu Papier gebracht hat, stellt eine ganz besondere Momentaufnahme
dar. Sie hat ihn seinerzeit nur im kleinen Kreis als Kopie verteilt – um einmal davon zu berichten, was sie da eigentlich alljährlich zur Sommerzeit in Israel tut. Ihre “Erinnerung an Beer Sheva” führt sie uns so vor Augen, wie wir sie kannten: mit ihrer zielstrebigen, disziplinierten Arbeitsweise, mit ihrer Geselligkeit und Lebenslust, mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe, mit dem Gläschen trockenen Weißwein und einer guten Zigarette, mit ihrer Neugierde auf Sprache und Kultur. Zugleich offenbart der Text eine der eher unbekannten Seiten. Dass Julia Männchen nach der Wende die neue Reisefreiheit nutzte und regelmäßig Israel besuchte, wusste man. Mit welcher Empathie sie sich in den Alltag des israelischen Studentenlebens einfügte, in die Welt des Lernens eintauchte, mit ihren weit jüngeren Kommilitoninnen und Kommilitonen auflebte – das haben wohl nur Wenige geahnt! Man lernt verstehen, was ihr diese Sprachkurse bedeuteten und wie sich für sie dabei nun doch noch so manches erfüllte, was zu DDR-Zeiten durch die unerbittlich gezogene Grenze nicht möglich war.
Die Erinnerungen an Julia Männchen sind zahlreich und vielfältig. Ich bin sicher, dass es in unserer Fakultät noch so manche Geschichte zu erzählen gibt.
Es sind gute Erinnerungen an eine starke, in ihrem Wesen aufrechte Frau.
“Erinnerung an Beer Sheva” von Julia Männchen (1939 - 2018)
Julia Männchen, 2007
Morgens um 8.00 Uhr ist die Welt noch in Ordnung – denke ich jedes Mal, wenn ich mich auf den Weg zur Uni mache. Der Tag ist noch frisch und unverbraucht, voll selbstverständlicher Wärme. Natürlich scheint die Sonne, manchmal gibt es ein paar Wolken. Das Wort “Wetter” fällt einem gar nicht erst ein. Auf dem Wohnheimgelände sieht man einzelne Studentinnen und Studenten, man hört Morgengengeräusche, aber insgesamt ist es ruhig, obwohl die Häuser voll belegt sind.
Wenn ich – vorbei an dem gepflegten Rasen, den Büschen und Bäumen – das schmale Eingangstor passiert habe, bin ich mitten im morgendlichen Verkehr. An der Kreuzung der zwei vierspurigen Straßen schreit mich wie immer die eine grüne Ampel an, aber dann bin ich schon vor dem schönen Eisenzaun des Unigeländes. Vorbei an der Bushaltestelle geht es etwas bergauf bis zu dem kleinen Eingangstor, wo ein Student oder eine Studentin in Jeans und TShirt mit dem Logo des Sicherheitsdienstes der Uni, das Gewehr über der Schulter oder wenigstens eine Pistole am Gürtel, meinen Ausweis kontrolliert. Jeden Morgen freue ich mich über die gepflegten Anlagen, die Oleanderbüsche, die hellen Kalksteinplatten dazwischen. Mein erstes Ziel ist die Cafeteria “Lemon Grass”. Mittags gibt es hier asiatisches Essen. Ich will jetzt nur einen Milchkaffee, der hier “Kaffee verkehrt” heißt, wobei das Wort “verkehrt” von der gleichen Wurzel kommt wie das Wort “Revolution” – Umsturz.
Die junge Frau am Kaffeeautomaten kennt mich bereits, und auch die andere, die Baguettes belegt und verpackt und wie eine Russin aussieht, erinnert sich an mich von vor zwei Jahren. Ich setze mich nach draußen. Dort steht noch das alte Mobiliar, während es drinnen mit den dunklen, hochlehnigen lederbezogenen Stühlen inzwischen wie in einem Bremer Ratssaal aussieht.
Draußen sitzen schon Kommilitoninnen und Kommilitonen zu zweit bei den Hausaufgaben. Die Amerikaner sammeln sich um einen Tisch und lachen viel, der junge Mann mit dem Pferdeschwanz von der Kasse des “Lemon Grass” macht am Laptop wohl seine Bestellung für den Tag. Um die Ecke ist die winzige Post. Man kann also schnell noch Briefmarken kaufen oder seine Ansichtskarten aufgeben.
In der ersten Zeit war der Unterricht im Gebäude 90 und man musste einmal über den ganzen Campus laufen. Dabei fallen immer die muslimischen Studentinnen auf, meistens wohl Beduinenmädchen, in ihren langen dunklen Kleidern mit langen Ärmeln und Kopftuch – und Rucksack! Jetzt sind wir gleich gegenüber vom “Lemon Grass” im Gebäude 34. In der großen Halle, die sich über alle drei Etagen erstreckt, sind bereits alle Computer besetzt – man ruft noch schnell seine e-Mails ab. Ich schaue auf unserer Pin-Wand nach neuen Informationen, dann fahre ich in die 2. Etage.
Die Klassenräume erinnern mich immer an Luftschutzräume – weiß und grau und Neonlicht. Zieht man die dicken Vorhänge beiseite, sieht man plötzlich, dass die Sonne scheint. Irit, unsere Lehrerin, besteht darauf, dass wir die großen Plastikstühle mit der Minischreibfläche auf der rechten Armlehne, gerade mal groß genug für ein A 5-Heft (Linkshänder müssen immer lange nach einem passenden Stuhl suchen), im Halbkreis aufstellen. Wir – das sind 5 Studentinnen aus Amerika bzw. Kanada, die mindestens für ein Semester in Israel bleiben, und wir drei aus Deutschland. Es wird intensiv gearbeitet, selten kommt jemand zu spät. Mehrmals wird die Klimaanlage an- und wieder ausgeschaltet – ein ständiger Kampf zwischen zwei Fraktionen.
Von 10.30 Uhr bis 11.00 Uhr ist Pause. Man trifft sich gegenüber dem “Lemon Grass” und sitzt auf der niedrigen Mauer, die die große Rasenfläche einfasst, die Amerikaner meist im Schatten, die Deutschen in der Sonne.
Vanessa und David, die beiden Koordinatoren, sind da, verteilen Papiere, informieren über Programmänderungen. Man verabredet sich zum gemeinsamen Einkaufen oder zum Filmbesuch abends.
12.30 Uhr ist Unterrichtsschluss. Ich gehe erst mal bei Zipi im Büro vorbei und frage nach Post. In dem winzigen Raum drängeln sich amerikanische und deutsche Studierende, um Beratung oder eine Auskunft zu
bekommen. Anschließend Mittagessen. Im gleichen Gebäude, dem Student Center, ist die Mensa. Hier gibt es ein breites Angebot an Fleisch, Gemüse und diversen Beilagen und sehr billig. Für etwas mehr als 1 Euro bekommt man ein vegetarisches Mittagessen. Die meisten aus unserer Gruppe treffen sich hier, aber ich mag den Raum nicht sehr: eine große, fensterlose Halle, sehr bahnhofsmäßig. Es gibt aber genug Alternativen, z. B. die Salatbar (ziemlich teuer) oder eben “Lemon Grass”. Wer das alles nicht mag, geht gleich ins “Gatro”, die Kneipe genau in der Mitte zwischen Uni und Wohnheim, direkt an der Kreuzung, Wand an Wand mit dem Schwimmbad. Name und Namensschild suggerieren Argentinien – der Besitzer soll von dort stammen. Die Speisekarte ist italienisch und ein bisschen einheimisch. Egal wo ich vorher gegessen habe – ich kehre mittags immer dort ein. Inzwischen ist es richtig heiß geworden. Jedes Mal wenn ich das Unigelände verlasse, kommt es mir vor, als wäre es auf der Straße noch heißer, als käme ich erst jetzt wirklich nach “draußen”. Verrückt. Im “Gatro” lasse ich mich draußen unter dem schattenspendenden Dach auf eine der ganz niedrigen, mit Matratzen belegten Bänke fallen, bekomme meinen trockenen Weißwein – der immer extra für mich angeschafft wird, weil den sonst wohl keiner trinkt – und einen Aschenbecher und lese meine Post. Der Absender ist immer derselbe, mein eigener. Wenn die Nachmittagsvorlesung ausnahmsweise schon um 15.00 Uhr stattfindet, lohnt es nicht vorher nach Hause zu gehen. Dann bleibe ich einfach sitzen und döse vor mich hin oder lese. Meistens geht es aber erst um 16.00 Uhr weiter. Da gehe ich über die Straße ins Wohnheim und habe Zeit einzukaufen – leider wurde der kleine Supermarkt auf dem Gelände wegen Umbau schon Mitte August geschlossen – oder Wäsche zu waschen. Das Zeug hänge ich auf Kleiderbügeln in der Küche und in meinem Zimmer auf. Wenn ich nach gut zwei Stunden von der Vorlesung zurückkomme, ist das meiste trocken.
Zunächst gehe ich aber noch einmal den Weg zur Uni, treffe Kommilitonen. Man redet über Hausaufgaben und Wochenendpläne. Nach Ende der Vorlesung ist es fast 18.00 Uhr. Das Licht hat sich verändert. Auf dem kahlen Hügel nordöstlich mit dem Denkmal für die Negev-Brigaden liegt die Abendsonne. Sie bringt den hellen Kalkstein zum Leuchten und zeichnet die Konturen scharf gegen den Himmel. Auch jetzt kehre ich im “Gatro” ein, muss mich allerdings auf eine andere Bank setzen, weil mir sonst die tiefstehende Sonne direkt ins Gesicht scheint und ich nicht lesen kann. Manchmal esse ich hier gleich Abendbrot – die unvermeidlichen Spaghetti – und mitunter kommen Kommilitonen vom Schwimmbad vorbei und setzen sich dazu.
Dann nach Hause zu den Hausaufgaben – ein Wort, das ich seit meiner Studentenzeit nicht mehr benutzt habe, jedenfalls nicht in Bezug auf meine Person. Eswird hier rasch dunkel, – um 08.00 Uhr ist es stockfinster, aber immer noch sehr warm. Die Straßen sind hell erleuchtet, der Verkehr auf den beiden großen Straßen ist unvermindert stark. In den Gästewohnungen gibt es zwar Klimaanlagen, aber ich mag sie nicht und stelle lieber den Ventilator an, den mir der Hausmeister ohne Probleme zur Verfügung gestellt hat. Manche lassen die Tür zu ihrer Wohnung – sie führt direkt in die Küche – offen, aber das mag ich nicht und war darin mit allen meinen Mitbewohnerinnen einig. In dem offenen Treppenhaus trifft man sich ohnehin. Ich setze mich an den Schreibtisch und lasse wie immer die Tür meines Zimmers zur Küche offen.
Mit manchen Mitbewohnerinnen war es besonders lustig. Eine – eine Anfängerin – rief mehrmals am Abend: darf ich dich mal was fragen? Bei einer anderen, die weiter war als ich, holte ich mir Hilfe. Zeitweise waren wir in einer Klasse und diskutierten die anstehenden Probleme. Es ist schön, so nebeneinander zu lernen.
Aber so etwa 23.00 Uhr ist es mit meinem Arbeitseifer vorbei und Zeit für einen Schlummertrunk – das Abendbier, nannte es eine Mitbewohnerin. Also zum letzten Mal ins “Gatro”. Manchmal holt mich ein Kommilitone ab, mitunter sitzt er schon dort mit anderen. Vor zwei Jahren ging es in der Kneipe noch lässiger zu: man saß oder lag beisammen – nach orientalischer Art auf den Polstern. Manchmal spielte jemand Gitarre. Jetzt ist es etwas strenger, mit Einlassdienst. Es heißt, man will kontrollieren, wer Wasserpfeife raucht. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Wir passieren den Einlassdienst stets ohne Probleme und genießen die Nacht. Wie warm mag es sein? Wohl noch immer fast 30 Grad, jedenfalls wunderbar angenehm. Eigentlich veranlasst nur der Gedanke an den Unterricht am nächsten Morgen zum Aufbruch – die Kneipe schließt wohl so etwa um 3.00 Uhr. Zum Schluss immer das gleiche Spiel: wir wollen getrennt zahlen, die jungen Mädchen aber nur insgesamt kassieren. Ich versuche das zu umgehen und zahle allein drinnen am Tresen. Ergebnis: der Wirt guckt, ob ich wirklich weg bin, dann kommt er heraus und legt mein Geld meinem Kommilitonen auf den Tisch, damit dieser für mich mit bezahlt. Warum???
Der Heimweg ist kurz: nur über die breite Straße. Auf dem Rasen innerhalb des Wohnheimgeländes sitzen Studenten und schwatzen. Vom Verkehr hört man nichts. Vor dem Schlafengehen stelle ich das Radio an: Kol Israel (Stimme Israels) Jeruschalaim. Der Klang der Sprache ist schön, auch wenn ich noch immer nicht sehr viel verstehe. Schließlich ist es beinahe 1.00 Uhr, Zeit ins Bett zu gehen – ganz unbesorgt. Um 7.00 Uhr wird der Wecker klingeln, aber auch an diesem Tag wird es sehr warm sein, wird die Sonne scheinen – wird die Welt in Ordnung sein.