SS 2018

"Architekturtheorie": Was Systematische Theologie und Hausbau gemeinsam haben

Dr. Knud Henrik Boysen

“Will man ein Haus bauen, was hat man da nicht vorher alles zu bedenken, bevor man mit gutem Gewissen den ersten Spatenstich tun kann. Mit welcher Mühe müssen alle Wünsche genau bedacht werden, die erfüllt werden sollen. Was für ein Studium kostet es, leichtverfügbare und wirkliche passende Materialien zu finden, die Bauweise zu bestimmen, für die jene Materialien am besten zu verwenden sind, und hundert andere solcher Fragen zu beantworten! Nun kann man jedoch sicher sagen, ohne das Bild zu sehr auszuweiten, daß die Studien, die der Konstruktion einer großen Theorie vorhergehen, mindestens ebenso durchdacht und gründlich sein sollten, wie jene, die dem Bau eines Wohnhauses vorhergehen.“
(Charles S. Peirce)

1. Dogmatik in den Grundvoraussetzungen systematischer “Architektonik“  
Im vorletzten Abschnitt seiner “Kritik der reinen Vernunft“ definiert Immanuel Kant den Begriff der “Architektonik“: “Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d.i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Szientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt. […] Ich verstehe aber unter einem System die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ (KRV B 860). “Architektonik“ ist nach Kant also das, was ein System überhaupt erst zu einem wissenschaftlichen System macht, indem es dieses System als eine Einheit entwirft. Dabei wird “Architektonik“ im Wortsinn, als Reflexion auf die avrch/, also auf den Anfangsgrund jeder Systematik, verstanden. Bereits Kant und Schleiermacher (GL2 I, § 21, Leitsatz) wie auch der eingangs zitierte Peirce haben für diese Fragestellung auf die Analogie des Hausbaus zuge-griffen. Wie bei der Grundlegung eines Hauses geht es darum, für ein wissenschaftliches System einen “Bauplan“ zu haben und ihm gemäß “Baumaterialien“ heranzuschaffen. Anhand des Bauplanes und mit Hilfe der Materialien können nun Stützpfeiler gesetzt, tragende Wände gezogen und auch ästhetische Bauformen und mancherlei Zierrat zu einem “Systemgebäude“ (wenn nicht gar zu einer Kathedrale) zusammengefügt werden, in dem es sich mitunter auch wie in einem “Wohnhaus“ gut und behaglich leben lässt.
Nun gibt es für Systembildungen wie bei einem Hausentwurf bestimmte Voraussetzungen und Regeln für eine Architektonik, also metaphorisch gesprochen eine “Architekturtheorie“, der sich jede Wissenschaft, die sich “systematisch“ nennt, nicht verschließen kann. Hier stellt sich also die Frage, was die Theologie “systematisch“ macht. Welche “architekturtheoretischen“ Prinzipien liegen einem systematisch-theologischen Entwurf zu Grunde, die ihn zu dem machen, was er ist? Nach welchem “Bauplan“ wird einem theologischen Topos seine Stellung innerhalb einer Dogmatik zugewiesen? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um eine Aussage zu einer dogmatischen Aussage innerhalb eines Systems der Dogmatik zu machen?
Mit Hermann Deuser lassen sich nun drei Grundvoraussetzungen bzw. Strukturbedingungen für jede Systematik festmachen. Diese lassen sich dann auch auf die “systematische Theologie“ als eine “architektonisch“ geleiteten Darstellung des christlichen Glaubens, d.h. eben auch als “Dogmatik“, anwenden.

2. Systematik als Ausführung der “Idee der Architektonik“
Die erste Grundvoraussetzung jeder Systematik und damit auch einer “systematischen Theologie“ ist die “Idee der Architektonik“ selbst, die den Aufbau eines Systems auf eine Einheit hin ausrichtet und gliedert. Mit Kant gesprochen ist dies “die Einheit des Zwecks, worauf sich alle Teile und in der Idee desselben auch unter einander beziehen […]. Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio) […]. Die Idee bedarf zur Ausführung ein Schema, d.i. eine a priori aus dem Begriff des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile. […] [A]rchitektonisch, um der Verwandtschaft willen und der Ableitung von einem obersten und inneren Zwecke, der das Ganze allererst möglich macht, kann dasjenige entspringen, was wir Wissenschaft nennen […].“ (KRV B 860f.).
Das Gegenteil zur architektonischen Einheit nennt Kant “technische Einheit“. Darunter versteht er die “Ähnlichkeit des Mannigfaltigen“, die “empirisch, nach zufällig sich darbietenden Absichten (deren Menge man nicht voraus wissen kann) entworfen“ wird, ohne von einer zugrundeliegenden Idee geleitet zu sein. Diese “Technik“ kann darum auch keine Architektonik hervorbringen, da sie das Vorliegende nur “häufen“ kann, anstatt es mit Hilfe einer “Idee“ architektonisch zu “gliedern“.

30 Jahre nach Kant wendet Friedrich Schleiermacher in seiner “Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ (§1) diesen Gedanken auf die Ganzheit der Theologie an: “Die Theologie […] ist eine positive Wissenschaft, deren Theile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d.h. eine be-stimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christen-thum.“ Die “Idee der Architektonik“, der apriorische Zweck, ist also für Schleiermacher das Vorhandensein eines “christlichen Gottesbewusstseins“, von dem aus sich die Theologie in allen ihren Teilen als Wissenschaft desselben entwerfen lässt und auf dessen Gestaltung als “Kirchenleitung“ sie sich zu richten hat.

3. Systematik als Darstellung kohärenter Zusammenhänge
Aus dieser Bestimmung der “Idee der Architektonik“ ergibt sich fast zwingend die zweite Grundvoraussetzung: Die Darstellung der inneren “Kohärenz“ (Stimmigkeit; Zusammenstimmung) eines systematischen Entwurfs, d.h. die Notwendigkeit, die Teile des Systems in einem widerspruchsfreien, schlüssigen Verhältnis zueinander darzustellen. Es ist also die Frage, wie sich z.B. ein Abschnitt der Dogmatik auf die anderen Abschnitte auswirkt, mit denen er ein kohärentes architektonisches System bilden soll. “Kohärenz“ ist darin nicht die quantitative, häufende Ansammlung von allerlei passenden Aspekten zu einem Thema, sondern die konsequent von der “Idee der Architektonik“ her entwickelte Darstellung der Zusammenhänge “im Sinne des qualitativ Wesentlichen unter Ausschluss von Nebensächlichkeiten“ (Rosenau: 72).
In die Aufgabe der Kohärenz eingeschlossen ist aber auch die “methodische Selbstkontrolle“, ein System auch in sich stimmig zu halten. Nicht als “zensurierendes Vorherschonwissen“ (Deuser: 68), das alles immer schon einordnet, sondern als Möglichkeit, das System immer wieder neu nach außen vermitteln zu können. Zu seiner Kohärenz gehört diese Vermittlung und Vermittelbarkeit eines Systems konstitutiv dazu, da es hinsichtlich vorliegender Erkenntnisse und Erfahrungen anschlussfähig sein und hinsichtlich sich verändernder Erkenntnisse und Erfahrungen anpassungs- und sprachfähig bleiben muss. Das ganze System wird so in einen “Entwicklungszusammenhang“ (Deuser: 67) von Erkenntnis und Erfahrung gestellt, mit dem es vermittelbar sein muss und an dem es sich auch überprüfen lässt. Dafür ist die Aneignung einer “Theoriesprache“ wichtig, die es ermöglicht, Verbindungen in die verschiedenen Bereiche der Wissenschaften herzustellen. Nur so kann das eigene System auch mit anderen Systemen vermittelbar gehalten werden, die z.B. mit einer unterschiedlichen “architektonischen Idee“ auf dieselben Inhalte zugreifen.

4. Systematik als Bewusstsein des historischen Kontinuums
Hieraus ergibt sich die dritte Grundvoraussetzung, diesen Entwicklungszusammenhang als eingebunden in ein geschichtliches “Kontinuum“ von menschlichen Erfahrungen und Erkenntnissen zu erfassen und das eigene System darin einstellen und verorten zu können. Menschliche Erfahrung und Erkenntnis aber “ist vielfältig plural und steht in einem offenen geschichtlichen Wandel. Daher kann mit Blick auf diesen Aspekt des Systems die Systematische Theologie niemals fertig und abgeschlossen sein; sie ist in dieser Hinsicht ein offenes System in der ständig sich wandelnden Auseinandersetzung mit seiner Umwelt.“ (Rosenau: 74). Eine Systematik wird darum das “Kontinuum einer Fragestellung“, welches von den sich wandelnden menschlichen Erfahrungen und Erkenntnissen geleitet ist, stets mit beachten müssen, denn seine “Kohärenz“ wird eben auch durch die Vermittelbarkeit mit dem (vielfältig bestimmbaren) “Kontinuum“ hergestellt. Eine Systematik muss also die Kunstfertigkeit besitzen, die Geschlossenheit ihrer architektonischen Idee zugleich mit einer Offenheit zu verbinden, mithilfe der “die Diskontinuierlichkeit, wie sie der natürlichen und menschlichen Erfahrung eingeschrieben ist“ (Rosenau: 74), in das System aufgenommen werden kann.
Dennoch sollte diese Betrachtung des historischen Kontinuums nicht zu weit getrieben werden, da es, wie Schleiermacher richtig sagt, “eine Unendlichkeit von Einzelheiten darbietet“ und darum “ein unerschöpfliches Gebiet [ist]“ (Kurze Darstellung, § 92). Statt sich also in den unendlichen Einzelheiten zu verstricken, muss eine Systematik darauf achten, die prägnanten “Entwicklungsknoten“ (a.a.O. § 91) zu finden, um die bedeutenden Umbrüche, Verschiebungen und Umorientierungen im historischen Kontinuum darzustellen.

5. Die Gefahr des “Dogmatismus“
Der Begriff “Dogmatismus“ stammt ebenfalls von Kant (KRV B XXXV), der damit eine unkritische Rezeption der vorliegenden Denküberlieferungen charak-terisiert. Statt aber Systeme in diesem Sinne “linear“ zu verstehen, so dass sie das Vorliegende immer schon einordnen und “auf Linie bringen“ können, müssen sie in sich eine architektonisch stimmige Struktur mit der immer gegebenen und immer neuen Kontingenz und Geschichtlichkeit menschlicher Erfahrungen verbinden können. Schon dies zeig an, dass Systeme niemals an ihr Ende kommen können, sondern ewig vorläufige Systemansätze bleiben. Diese stetige Bemühung um Systematizität bei gleichzeitiger stetiger Offenheit und Suche nach Vermittlung und Ausgleich ist jedoch für den Systemgedanken notwendig. Ansonsten werden Systeme und ihre Vertreter schnell als “starr, aggressiv, besserwisserisch und gesprächsunfähig“ (Sauter: 298) wahrgenommen und gerade die systematische Theologie gerät so leicht in den Verdacht “dogmatistisch“ zu sein, vor allem wenn das “Dogma“ in eine Geschichte christlich-religiös motivierter Intoleranz und Gewaltanwendung eingereiht wird.
Gerade aus diesem Grund hat Gerhard Ebeling  sich dagegen gewehrt, “das Systematische an der Systematischen Theologie […] mit der gegebenenfalls nützlichen, aber nicht zu überschätzenden und nicht ungefährlichen geschlossenen Architektonik eines theologischen Lehrgebäudes“ (Ebeling: 456) zu verwechseln. Stattdessen gehe es um die “Erfassung der Sachzusammenhänge“ erstens zwischen “Glauben und Wirklichkeit in der ganzen Vielfalt von Wahrheitserkenntnis und Erfahrung“ und zweitens zwischen “den einzelnen Glaubensaussagen als bloßen Modifikationen eines Einzigen“ (Ebeling: 456). Nur fragt sich, wieso Ebeling diese Erfassung von Sachzusammenhängen gegen eine architektonische Systematik ausspielen will. Immerhin wäre doch die Darstellung der “Modifikationen eines Einzigen“ auch so etwas wie die “Idee der Architektonik“ und die Erfassung der Sachzusammenhänge muss geradezu jedem kohärenten System zu Grunde liegen. Hinter dieser Abgrenzung steht bei Ebeling aber gerade die Furcht, ein System könnte zum starren, “dogmatistischen“ Gebilde werden, hinter das sich die Theologie zurückzieht, anstatt die “Frage nach dem schlechthin Notwendigen“ (Ebeling: 456) zu beantworten.
Ebeling ist darin Recht zu geben, dass die Gefahr des “Dogmatismus“ allerdings schon im Systemdenken selbst, sozusagen als ihr möglicher “Systemfehler“, beschlossen liegt. Es ist der Irrglaube, dass mit einem nur möglichst ausgereiften System und einer möglichst umfassenden “Idee der Architektonik“ auch wirklich alles auf einmal erfasst und letztgültig bestimmt werden könnte. Auf die systematische Theologie angewandt ist “Dogmatismus“ dann “das begleitende Symptom einer […] Krise, in die die Dogmatik gerät, wenn von ihr abverlangt wird, was sie nicht ‘leisten‘ kann, auch beim besten Willen nicht.“ (Sauter: 301f.). Die Gefahr liegt hier in “der Behauptung, die gesamte Wirklichkeit ‘von Gott her‘ erfassen und entschlüsseln zu können, mit Deutungsmustern, die so in sich geschlossen sind, daß sie für alle Fragen möglichst schon eine Antwort parat haben. Freilich läßt der Dogmatismus nur solche Anfragen zu, für die er vorbereitet ist. Seine Auskünfte werden desto unerbittlicher werden, je weniger flexibel und aufgeschlossen sie tatsächlich sind. Ein Dogmatismus läßt sich nur repetieren, er ist gegen jede Kritik resistent und hat sich gegen jede Rückfrage immunisiert.“ (Sauter: 303). Hier werden die Grundvoraussetzungen der Systematik zu Fehlformen verdreht: Denken in Systemen wird zur persönlichen Verteidigung des eigenen Systems, notwendige Unterscheidungen werden zu schroffen Verwerfungen angeblicher Gegner, notwendige Schematisierungen werden zu bloßem Schematismus, der immer schon alles einordnen kann, Geschichtlichkeit wird zu Positivismus. Die systembildende Wissenschaft wird zum Gerichtshof erhoben, dem zugemutet oder zugeschrieben wird, aus ihrem systematischen Denken heraus, ein letztgültiges Urteil über richtig und falsch, Wahrheit und Lüge fällen zu können. Gegen dieses Abgleiten der Systematisierung in autoritären Dogmatismus ist freilich keine systematisierende Wissenschaft gefeit. Ein Beispiel über die Theologie hinaus wäre die manchmal in der Geschichtswissenschaft anzutreffende Meinung, sie könne nach dem Motto “die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ im Nachhinein eine Person oder eine Epoche abschließend bewerten und unter ihr absolutes historisches Urteil und Verdikt stellen ohne dabei für eine zukünftige Neuinterpretation offen zu sein.

6. Schluss
Aus der Korrelation der drei oben ausgeführten Grundvoraussetzungen und aus dem Wissen um ihre Fehlformen ergibt sich die Systematizität einer dogmatischen Aussage. Diese besteht darin, die drei Instanzen jeweils zueinander ins Verhältnis setzen und sie so in die Architektonik einbinden zu können. Da diese Verhältnissetzung aber immer zugleich auch die Korrelation theologischer Sätze mit menschlicher, geschichtlicher und damit bedingter Erfahrung und Erkenntnis ist, so bedeutet “systematische Theologie“ zugleich immer auch als “Vermittlungstheologie“ zu begreifen, die tastend gangbare Wege in der Artikulation ihrer theologischen Aussagen sucht, um sie vor dem Forum der anderen Wissenschaften und der menschlichen Erfahrung nachvollziehbar und methodisch überprüfbar zu halten.

Literatur:
Deuser, Hermann: Was macht die Theologie systematisch? Über das Verhältnis von Theologie und Religionsphilosophie, in: BThZ 17 (2000), 65-84; vgl. auch Rosenau, Hartmut: Vom Sinn des Systematischen in der Theologie, in: Andrée, Uta; Miege, Frank; Schwöbel, Christoph (Hg.): Leben und Kirche, FS Wilfried Härle, MThSt 70, Marburg 2001, 67-77.

Sauter, Gerhard: Zugänge zur Dogmatik. Elemente theo-logischer Urteilsbildung, Göttingen 1998, 297-303. Vgl. auch die Aufstellung der “Berufskrankheiten des Dogmatikers“, a.a.O., 351-356.

Ebeling, Gerhard: Diskussionsthesen zur Einführung in das Studium der Theologie, in: Ders.: Wort und Glaube [Bd. I], Tübingen 1960, 447-457.