WS 2017/18
Das reformatorische sola scriptura und die orthodoxe Bibelwissenschaft
Eva-Maria Isber
Sola scriptura – allein die Schrift. Was sich Martin Luther einst auf die Fahnen schrieb, wirft heute, 500 Jahre nach dem Beginn der reformatorischen Bewegung, von neuem Fragen auf. Allein die Schrift als Grundlage alles Theologietreibens, unabhängig von Konzilien, Kirchenvätern und Papst? Allein die Schrift, von Christus bestimmt, trotz mancher dunkler Stellen dennoch so klar und verständlich, dass es keiner weiteren Instanzen braucht, um sie auszulegen? Die Schrift als ihr eigener Ausleger also (scriptura sui interpres)? Gilt dieser hermeneutische Schüssel auch heute noch für evangelische Theologen und Theologinnen? Lesen wir die biblischen Schriften tatsächlich so? Wenn ja, warum füllen wir dann lange Regalmeter mit Auslegungen, wo doch die biblischen Schriften allein genügen würden? Hat denn die Auslegungstradition der biblischen Texte überhaupt keine Relevanz mehr für uns?
Im Rahmen ökumenischer Dialoge gehört es zum guten protestantischen Ton, theologische Positionen biblisch zu begründen. Das ist sicher gut und richtig (und auch im Geiste Luthers), stößt aber relativ schnell an Grenzen. Denn was sich schon beim „Bibelvers-Schlagabtausch“ am Esstisch des Theologischen Studienhauses herausstellt, gilt auch für den Dialog im Großen: Für alle Fälle eine Bibelstelle! Und da findet sich dann für jeden Beleg immer auch ein Gegenbeleg. Kommen schließlich noch die vielfältigen Auslegungs-traditionen hinzu, verliert man schnell den Überblick. Denn ohne einen gemeinsamen methodischen Zugang zu den biblischen Texten entsteht das Problem, dass alle zwar den einen Text vor Augen haben, ihn jedoch ganz unterschiedlich lesen und verstehen. Ökumenische Einheit in der Vielfalt oder doch Chaos im Hause Gottes?
Protestantischerseits wird da gern – besonders im Dialog mit den orthodoxen Geschwistern – das Ass der historischen Kritik aus dem Ärmel gezogen und gegen die Väter und die Auslegungstradition der Orthodoxen Kirchen ins Feld geführt. Dabei übersieht man meist, dass die orthodoxe Schriftauslegung der Gegenwart schon längst viel pluraler ist, als in Mitteleuropa angenommen. Auch hier lassen sich durchaus Kenntnis und Anwendung der Methodenschritte historisch-kritischer Schriftauslegung finden. Und auch im Westen ist ja längst noch nicht eindeutig geklärt, was überhaupt die historisch-kritische Methode ist, welche exegetischen Schritte zu ihrem Repertoire gehören und was genau Sinn und Zweck einer solchen Auslegungsmethode sein soll. Geht es um das historische Gewachsensein der biblischen Texte, um eine streng wissenschaftliche Denkweise gegenüber der frommen Vorstellung, die Schrift sei vom Himmel gefallen, oder um ein Hintertürchen, um unliebsame Textstellen zu entschärfen? Müsste sich Luther da nicht vielleicht so manches Mal gar sprichwörtlich im Grabe umdrehen?
Ein gutes Beispiel für konfessionell unterschiedlich geprägte Auslegungsmuster sind die neutestament-lichen Texte zur Rolle von Frauen, die wir in der Briefliteratur finden – jene Texte also, die auch bei der Diskussion um die Frauenordination immer wieder herangezogen werden. Hier wird deutlich: die Vielfalt der Lektüren verdankt sich unterschiedlichen methodischen Zugängen und führt deshalb immer wieder zu kontroversen Diskussionen um den einen biblischen Texte. Es lohnt sich also ein genauerer Blick auf die Auslegungstraditionen im griechisch-orthodoxen und im protestantischen Bereich.
In den Orthodoxen Kirchen dürfen Priester zwar verheiratet sein und Familien haben, sofern die Eheschließung noch vor der ersten Weihe (der Diakonatsweihe) erfolgt. Häufig spielt dann auch die Ehefrau des Priesters in der Gemeinde eine aktive Rolle. Frauen dürfen jedoch, obwohl zum Theologiestudium zugelassen und in Wissenschaft oder Religionsunterricht tätig, kein Priesteramt übernehmen. Der Zugang zum Altarraum hinter der Ikonen-Wand, der sogenannten Ikonostase, bleibt ihnen verwehrt. Je nach Frömmigkeitsgrad und Region sind Frauen auch vom liturgischen Gesang ausgeschlossen und Mädchen vom Ministrantendienst. Mit bestimmten Reinheitsvorstellungen verbundene Riten wie das Fernbleiben von der Eucharistie oder sogar vom Gottesdienst zur Zeit der Monatsblutung oder des Wochenbettes haben sich bis in die Gegenwart gehalten. Gern wird die Kopfbedeckung der Frauen in der Kirche mit dem Neuen Testament oder mit der Abbildung der Gottesmutter in der Ikonenmalerei begründet. Welche Rolle spielen bei diesen Themen – ganz besonders dem der Frauenordination – die neutestamentlichen Texte? Und wie verhält sich ihr Verständnis zu den Auslegungstraditionen im Westen, also im protestantischen und katholischen Bereich?
Zu 1Kor 11,2-16 (Habitus beim Gebet) finden sich im 20./21. Jh. in der griechischen Bibelwissenschaft kontroverse Auslegungen. Verse wie „Jede Frau aber, die betet und prophetisch redet und dabei nicht ihren Kopf bedeckt,[…]“ (V. 5) und „Deswegen soll die Frau eine Macht über ihrem Haupt haben der Engel wegen.“ (V. 10) werden von konservativen Exegeten auf die geforderte Kopfbedeckung der Frau bezogen. Feministische Exegetinnen in Griechenland ziehen hier indessen auch V. 3 („[…] das Haupt jedes Mannes ist Christus, Haupt der Frau aber ist der Mann, Haupt Christi aber ist Gott.“) heran; sie deuten die Metapher vom „Haupt der Frau“ in V. 5 und V. 10 auf deren Ehemann und bestreiten auf diese Weise, dass es hier überhaupt um die Frage der Kopfbedeckung von Frauen ginge. Gegenwärtige protestantische Auslegungen interessieren sich eher für den Konflikt in Korinth und für die Missstände, gegen die Paulus argumentiert. Sollen die Frauen wirklich eine Kopfbedeckung tragen oder nur ihr hochgestecktes Haar nicht lösen, damit sie nicht mit den Prophetinnen in den Kulten der Umwelt verwechselt werden bzw. die christlichen Gemeinden wegen der erotischen Ausstrahlung ihrer Frauen in Verruf geraten? Welche Regelungen auch immer hier im Hintergrund stehen mögen – in westlichen Auslegungen besteht vor allem darüber ein Konsens, dass Paulus in 1Kor 11,2-16 ganz selbstverständlich von Frauen ausgeht, die in der Gemeindeöffentlichkeit prophetisch reden und beten.
Legt man bei der Frage nach der Beteiligung von Frauen in Liturgie und Kirche den Akzent auf 1Kor 11,2-16 und zieht auch noch Gal 3,28 (in Christus gibt es nicht mehr „männlich und weiblich“) heran, so ergibt sich ein ganz anderes Bild als in Texten wie 1Kor 14,33b-35 und 1Tim 2,11-15. Deshalb drängt sich hier die Frage nach der Verfasserschaft und Datierung der Texte auf. Wenige Kapitel nach 1Kor 11,2-16 steht nämlich im gleichen Brief die klare Regelung: „Wie in allen Gemeinden der Heiligen sollen die Frauen in den Gemeindeversammlungen schweigen, denn es ist ihnen nicht erlaubt zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie es auch das Gesetz sagt. Wenn sie aber etwas lernen wollen, sollen sie im Haus ihre eigenen Männer befragen. Eine Schande ist es nämlich für eine Frau, in der Gemeinde zu reden.“ (1Kor 14,33b-35). Kann beides aus der Feder des Paulus stammen? Stehen die vielschichtigen Argumentationen zum Auftreten von Männern und Frauen bei Gebet und Prophetie in 1Kor 11,2-16 nicht im direkten Widerspruch zu dem klaren, generellen Redeverbot für Frauen in 1Kor 14,33b-35? Warum sollte man erst den Brauch für Kopfbedeckung oder Frisur regeln, wenn Frauen doch ohnehin nur im Hintergrund bleiben sollen? Denn öffentliches Gebet und Prophetie lassen sich schweigend ja wirklich nur schwer bewerkstelligen ... Manche westliche Auslegungen, die das Verb des Redens in 1Kor 14,34 auf das „Zwischenfragen“ der Frauen zu beziehen versuchen oder unterschiedliche Frauengruppen (Jungfrauen in 1Kor 11,2-16 und verheiratete Frauen in 1Kor 14,33b-35) voraussetzen, wurden auch auf orthodoxer Seite gern rezipiert, heben aber die grundsätzliche Spannungen nicht auf. Dass eine solche Spannung schon früh bemerkt wurde, zeigt das in orthodoxen Publikationen häufig herangezogene Zitat des Kirchenvaters Johannes Chrysostomos (4. Jh.), der von prophetisch begabten Frauen nur in der Zeit der frühen Christenheit ausgeht.
Auch die textkritischen Untersuchungen zu 1Kor 14,33b-35 helfen hier nur bedingt weiter. Zwar zeigen die Handschriften, dass die Verse in ihrer Stellung innerhalb des Kontextes variieren. Dennoch gibt es keine Handschrift, in der die Verse fehlen und die eine spätere Einfügung des Redeverbotes in den paulinischen Brief durch einen Redaktor zweifelsfrei belegen könnten. Gegen die paulinische Verfasserschaft dieser Verse spricht jedoch – neben der Spannung zu 1Kor 11,2-16 – auch die Parallelität mit Texten wie 1Tim 2,11-15. Dort heißt es: „Eine Frau lerne in der Stille in aller Unterordnung. Zu lehren aber erlaube ich der Frau nicht, auch nicht über den Mann zu herrschen, sondern [ich will], dass sie sich in der Stille halte.“ (V. 11-12) Für konservative, an den Vätern orientierte griechisch-orthodoxe Ausleger, ist das ein klarer Beleg für den Willen des Paulus, dass Frauen in der Gemeinde nichts zu sagen hätten. Dabei setzen sie natürlich die paulinische Verfasserschaft des ersten Timotheusbriefes voraus. Gleichzeitig finden wir in Griechenland aber auch Auslegungen, in denen die westliche Diskussion um den pseudepigraphen Charakter und die Spätdatierung des ersten Timotheusbriefes aufgenommen wird. Protestantische Auslegungen hatten sich seit Schleiermacher immer eindeutiger positioniert: Der erste Timotheusbrief und somit das Redeverbot in 1Tim 2,11-12 sind nicht Paulus, sondern einer paulinischen Schultradition zuzuschreiben. Daraus zog man den Schluss, dass auch 1Kor 14,33b-35 ungefähr zeitgleich mit 1Tim 2,11-15, nämlich in einer späteren Phase der Ausbreitung des Christentums, der Herausbildung erster fester kirchlicher Strukturen und einer damit verbundenen Verdrängung von Frauen aus dem öffentlichen kirchlichen Bereich, entstanden sei. Das Problem der Spannung zwischen 1Kor 14,33b-35 und 1Kor 11,2-16 schien dadurch gelöst. Dass hier aber These auf These aufbaut und die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe auch immer wieder angezweifelt worden ist, zeigen nicht nur die kritischen Bemerkungen orthodoxer BibelwissenschaftlerInnen, sondern auch neuere Studien im Westen.
Einen weiteren Akzent setzt der Textabschnitt 1Petr 3,1-7, in dem christliche Frauen zur Glaubenswerbung gegenüber nicht-christlichen Ehemännern durch ein bescheidenes Auftreten sowie eine untergeordnete Verhaltensweise und eben gerade nicht durch Worte aufgefordert werden. Analog zu 1Tim 2 stellt sich auch hier die Frage: Handelt es sich tatsächlich um Anweisungen des Apostels Petrus oder um spätere Regelungen zu Beginn des 2. Jh.s n.Chr.? Die Frage nach der Verfasserschaft stellt jedoch nicht nur eine wissenschaftliche Spitzfindigkeit dar. Vielmehr hat sie weitreichende hermeneutische Konsequenzen: Ist das Wort der Apostel nicht Weisung für die Kirchen bis in die Gegenwart, und worin genau bestand überhaupt die Regelung in den frühen Gemeinden? Forderten Paulus und Petrus wirklich ein Redeverbot für Frauen? Hatten sie mit dem Ideal von Zurückhaltung und Schweigen etwa das Vorbild der angeblich so unterwürfigen alttestamentlichen Frauen (1Petr 3,6) im Sinn? Oder war in den Gemeinden des Paulus doch viel eher das prophetische Reden und Beten von Frauen an der Tagesordnung, so dass man sich auch heute noch – so besonders der protestantische Schluss – an dieser frühchristlichen Praxis orientieren sollte? Metho-disch wird hier nur eines deutlich: Wer mit der Tradition argumentiert, festigt ein patriarchales Rollenbild von Frauen und „verschiebt“ Aussagen wie Gal 3,28 auf einen unbestimmten eschatologischen Horizont. Im Gegenzug zeigt eine konsequente historische Kritik der biblischen Texte die Pluralität an Aussagen zur Rolle von Frauen, steht aber vor der hermeneutischen Herausforderung, nun nicht mehr eindeutig sagen zu können, was das biblische Zeugnis an Orientierung für die Gegenwart bietet. Ein Dilemma?
Griechisch-orthodoxe WissenschaftlerInnen, die zumeist im englisch- oder deutschsprachigen Raum studiert haben, versuchen heute, die Methoden der historisch-kritischen Exegese mit der traditionellen orthodoxen Schriftauslegung zu verbinden. Während sich Textkritik und philologische Analyse sowie die Untersuchung religionsgeschichtlicher Vergleichstexte (etwa aus Qumran) zunehmend als feste Bestandteile der Bibelauslegung etablieren, stehen die Ergebnisse diachroner Forschung sowie die Frage nach der Entstehungsgeschichte von Texten nach wie vor in Spannung zu den Traditionen der Väter. Hermeneutische Reflexionen setzen hier den Akzent häufig auf die Eucharistie, in der sich heutige AuslegerInnen in den Strom der Tradition einfügen. Sie plädieren für eine Wahrrnehmung des „Geistes der Väter“ (Sabbas Agouridis) anstelle einer Orientierung an konkreten Wortlauten. Polemische Aussagen gegen einen versteckten orthodoxen Fundamentalismus, der nahezu „sklavisch“ an patristischen und besonders byzantinischen Modellen festhalte und alles Neue, Westliche ablehne, sind dabei nicht selten zu beobachten. Gleichzeitig sensibilisieren diese aktuellen integrativen griechisch-orthodoxen Modelle für die hermeneutischen Leerstellen einer rein historisch-kritischen Bibelauslegung, die für westliche Gesprächspartner sicher bereichernd sein kann. Ob dabei der Vorschlag, diese Leerstellen mit einem reflektieren Rückgriff auf die Auslegungstradition zu füllen, auch für protestantische und katholische ExegetInnen annehmbar sein könnte, liegt sicher auch daran, wie man in den verschiedenen Konfessionen das Phänomen der „Rezeptionsgeschichte“ biblischer Texte bewertet.
Während orthodoxe BibelwissenschaftlerInnen zunehmend westliche Methoden der Exegese vor allem auf der Ebene synchroner Textwahrnehmung aufnehmen, stehen ihre westlichen KollegInnen der Frage einer Bereicherung durch die orthodoxe Schriftauslegung noch eher zögerlich gegenüber. Besonders auf protestantischer Seite wird hier die Frage zu klären sein, wie absolut das reformatorische Prinzip sola scriptura zu gelten habe, wenn es nicht vielleicht sogar bereits seit der Aufklärung im wissenschaftlichen Umgang mit der Bibel schon verloren gegangen ist. Kann im Rahmen des ökumenischen Dialoges für die protestantische Schriftauslegung also auch die patristische Auslegungstradition von neuem fruchtbar werden und sich mit den Grundsätzen der Reformation verbinden lassen? Wie auch immer man hier im Detail entschieden wird: lernen können wir auf jeden Fall von den aktuellen Entwicklungen in der griechisch-orthodoxen Bibelwissenschaft – nämlich die Offenheit für neue methodische Ansätze und Denkrichtungen, was uns an das semper reformanda der Reformation erinnert. Ständige Erneuerung tut sicher nicht nur der Kirche im Großen, sondern auch den theologischen Teildisziplinen gut, auch im 21. Jahrhundert.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Euch ein ereignis- und entdeckungsreiches Semester auf der Suche nach der Schrift und ihrer Wirkung nicht nur im Dialog, sondern auch in uns selbst!