SS 2014
Wissenschaftliche Theologie, Kirchenleitung und Predigt – Gedanken eines Praktikers
Gerhard Ulrich Landesbischof der Nordkirche
I
In der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland sind wir stolz auf die vier Fakultäten im Bereich unserer Landeskirche und dankbar, dass wir sie haben und dass es gelungen ist, während der Fusion zur neuen Landeskirche die drei Bundesländer davon zu überzeugen, dass alle vier Fakultäten den Ländern und auch der Kirche gut tun. Jede der vier Fakultäten – in Greifswald, Rostock, Kiel und Hamburg (dort „Fachbereich“), aber auch das Institut an der Universität Flensburg – versteht es mit ihrem Programm, ihrem Profil und ihren Projekten deutlich zu machen: Evangelische Theologie ist von Bedeutung nicht nur für die Ausbildung zu kirchlichen Berufen, sondern für die Kultur einer Gesellschaft insgesamt.
Kirche und wissenschaftliche Theologie brauchen einander. Unsere Verkündigung braucht die ständige Reflexion auf den Grund unseres Dienstes: das Wort Gottes. Und die wissenschaftliche Theologie braucht die Einbindung in die Kirchen hinein, als Erdung gewissermaßen, denn alle Theologie will praktisch werden, alle Theologie ist selbst Verkündigung des Wortes Gottes. Denn das Wort Gottes eröffnet den Dialog. Mit seinem Wort kommt Gott in Beziehung zu seinen Menschen. Gott spricht sein Wort in konkrete lebensgeschichtliche und politische Realitäten hinein. Und er bedient sich der biblischen „Autoren“, der Geschichtserzähler und Weisheitslehrer, der Poeten, der Propheten, der Evangelisten, der Apostel, die sein Wort auszurichten in die Welt und an die Welt. Und immer wohl in der Geschichte der Schrift hat es so etwas gegeben wie „Durchsichten“ – damit es zu Einsichten kommen kann und damit neue Einsichten Konsequenzen haben können und damit unterschieden werden kann Menschenwort von Gotteswort und umgekehrt. Natürlich ist das ein umfassendes hermeneutisches Geschehen; aber hier liegt für die Verkündigung in der Gegenwart auch eine Chance: Kirche könnte eine gewichtige Rolle spielen für die gegenwärtige Gesellschaft, die angesichts immer komplexer werdender Zusammenhänge, angesichts immer größer werdender Unübersichtlichkeit nach „einfachen“ Antworten verlangt. Kirche könnte genau darin eine gewichtige Rolle spielen, dass sie dergestalt Anwältin der Wahrheit ist, dass es diese einfachen Antworten nicht gibt – auch nicht geben muss. Das Wort der Predigt ist ein verweisendes Wort, ein auf Gott verweisendes Wort. In ihm ist aufgehoben alles das, was sich unserer Einsicht, unserem Verstehen entzieht. Ermutigung zur Ratlosigkeit kann dann und wann die eigentlich starke Vollmundigkeit sein!
II
Ich meine, dass wir nicht zu eng von „Predigt“ denken und reden sollten. Predigt ist auch Rede auf der Kanzel! Und natürlich ist das auch für mich, der ich auch als Bischof Pastor bin, der herausragende Ort meines Redens.
Aber „Predigt“ ist zugleich noch viel mehr. Die Kanzel ist mobil. Sie kann stehen in der Zeitung, sie kann stehen im Fernseher oder im Netz, sie kann stehen in einem kirchlichen Parlament oder in irgendeinem Vortragssaal. Kurz: So wie Kirche nicht nur ist am Sonntagmorgen um zehn Uhr – genau so ist Predigt nicht nur Rede auf der Kirchenkanzel oder gar Rede von der Kirchenkanzel herab!
Also: Ich will weit denken und groß reden von der Predigt – sie ist „vernünftiger Gottesdienst“ im Alltag der Welt (Röm. 12,1). Ich will sie annehmen und nutzen, die „Chancen des Alltags“ – wie Ernst Lange sie treffend genannt hat. Und alles, was da zu einem „homiletischen Ernstfall“ wird, ist selbstverständlich nicht schon Predigt – aber um homiletische Situationen handelt es sich durchaus; – und als solche sind sie auch im Horizont der Predigtlehre zu verantworten.
III
Meine erste und grundlegende „homiletische Einsicht“ heißt: Die Predigt kommt aus dem Hören! Gut reden können allein reicht nicht, um gut predigen zu können. Auf das Hören kommt es an! Prediger sind Minister – nämlich „Minister“ im ursprünglichen Sinne des Wortes. Prediger und Predigerinnen sind Diener und Dienerinnen – des Wortes Gottes: minister im ministerium verbi divini– nennt die Tradition das.
Der Dienst kommt aus dem Hören. Ich möchte dabei das „Hören“ verstehen als ein Wahrnehmen des Wortes innerhalb von drei Relationen:
Erstens und grundlegend: Hören auf das Wort Gottes und weiter gefasst – wahrnehmen die Wirklichkeit Gottes.
Zweitens: Hören auf die Menschen, hören auf die Welt um mich herum und weiter gefasst – wahrnehmen die Wirklichkeit von Mensch und Welt.
Drittens: Hören auf mich selbst, und weiter gefasst – wahrnehmen mich selbst als Mensch in diesem Beziehungsgeflecht.
Predigen verstanden als die Kunst, verantwortlich zu reden heißt also, um diese drei Relationen der Verantwortung zu wissen, sich darin aufgehoben, getragen und herausgefordert zu fühlen. Dieser Beziehungsreichtum, in dem der Prediger oder die Predigerin steckt, der ihm und ihr geschenkt ist, er mag formal klingen – und die Frage liegt auf der Hand: Was heißt das? Und wie geht das? – da wir doch als Predigerinnen und Prediger selbst auf das Brennen des Feuers in unserem Herzen angewiesen sind!
Ich habe im Sinn, was auf einer Tagung zur „Qualität pastoraler Arbeit“ zur Tugend der „Seins-Gelassenheit“ gesagt worden ist. Das ist eine der wirklich wichtigen Güte-Kategorien für den pastoralen Dienst: diese Seins-Gelassenheit. Dieses Wissen: ich verdanke mich nicht mir selbst. Und: Kirche ist mehr, als mein Dienst abbilden muss. Die Confessio Augustana spricht hier von dem Grundvertrauen darauf, dass allezeit sei und bleibe eine heilige christliche Kirche auf Erden! (CA 7)
Kirchenleitung ist primär Verantwortung für die Lehre der Kirche, sie braucht zuerst Lust am Wort, lebt aus und von der Begeisterung für die Sache Gottes; lebt aus und von der Neugier für die Botinnen und Boten, die Gott schickt und von der Neugier – also Liebe – für ihre Gaben. Und: Kirchenleitung lebt von der Einsicht, dass sie immer allen Glaubenden aufgetragen ist – inklusive der bischöflichen Verantwortung. Und: Leitung, so verstanden, lebt auch von der Gewissheit der eigenen Begrenztheit und Angewiesenheit. Leitung ist immer geleitet – oder sie leitet nicht!
IV
Die Kirche leiten durch das Wort. Die Kirche leiten allein durch das Wort… Es könnte ja auch ganz anders sein – und es ist weithin in der Kirchengeschichte auch anders gewesen. Was wir in einer lutherischen Kirche nicht wollen und auch nicht sollen, hat Martin Luther schon früh (1518) pointiert gesagt: „Ketzer zu verbrennen, ist wider den Heiligen Geist“ (WA 1, 624 u. 625). Ketzer und falsche Lehre sind allein durch Argumente zu überzeugen; sie dürfen aber nicht mit dem Schwert oder dem Scheiterhaufen bekämpft werden. Deswegen wird in der Confessio Augustana über die Gewalt der Bischöfe – also die Kirchenleitung – gesprochen im Modus der Aufforderung: Die Leitung der Kirche habe zu geschehen „ohn menschliche Gewalt, sonder(n) allein durch Gottes Wort.“ (CA 28 – „sine vi humana, sed verbo“).
Mir ist hier der pointierte Gegensatz wichtig: „menschliche Gewalt“ einerseits – „Wort Gottes“ andererseits, der in sich eine eindeutige Wertung enthält. Nämlich die: Menschliche Gewalt taugt nicht zur Kirchenleitung – das Wort Gottes aber taugt sehr wohl zur Kirchenleitung. Der menschlichen Gewalt ist nichts – dem Wort Gottes aber alles zuzutrauen!
Kirchenleitung und damit die Verantwortung für die Lehre, ja im weiteren Sinne Mission, geschieht durch die Predigt des Evangeliums in Wort und Tat. Für mich ist dieser Aspekt der evangelisch-lutherischen Lehre von der Kirchenleitung und damit der Predigt ein essential meiner Rollenzuschreibung und Aufgabenbeschreibung: Darin ist evangelische Kirche tatsächlich „Kirche der Freiheit“! Da wird eben nicht von oben – „top down“ – angeordnet, was als Lehre und Leben der Kirche zu gelten hat. Sondern: es ist hier gleichsam von einem ur-demokratischen Grundzug zu reden, der die Lehre und das Leben der Kirche ausmacht! Es soll gelten die Macht des besseren Arguments, es soll gelten, was sich als Ergebnis in einem Meinungsbildungsprozess herausgebildet hat, der auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens möglichst „hart aber fair“ sich abspielt: Beteiligt werden sollen also die Kirchengemeinden, die Synoden, das Kollegium eines Aufsicht führenden Kirchenamtes usw. Ich erinnere nur daran, dass es Martin Luther war, der letztinstanzlich die Kompetenz zur Beurteilung und Unterscheidung von rechter und falscher Lehre auf die Gemeinde übertragen hat. Man nehme und lese nur seine Schrift von 1523 mit der programmatischen Überschrift: „Dass eine christliche Versammlung oder Gemein(d)e Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen.“ Hier kann man finden ein wirksames Heilmittel gegen die „römische Versuchung“, alles klar und eindeutig von oben nach unten und in jedem Winkel der Welt gleich geregelt zu haben. Daraus folgt noch etwas anderes nebenbei, das jene bedenken sollten, die sich zunehmend nach Hierarchisierung auch bei uns zu sehnen scheinen: es ist eine reformatorische Grunderkenntnis, dass die Wahrheit nicht aus der Hierarchie sich erschließt, sondern aus dem Diskurs, aus dem Hören auf Gottes Wort und aus dessen Auslegung!
Ich gebe es gerne zu: die „evangelische Freiheit“ ist oft anstrengend zu leben im kirchenleitenden Alltagsgeschäft. Aber: Ich jedenfalls will nicht eintauschen den Segen evangelischer Freiheit gegen ein Linsengericht mit Namen „klare und eindeutige Hierarchie“!
V
Trotzdem muss, wer von Predigt und homiletischen Einsichten redet, auch von einer anderen Seite der Predigt sprechen. Die Predigt ist – so scheint es mir – wunderbar unzeitgemäß. Predigt ist etwas, was sich zunehmend keineswegs von selbst versteht – in einer Zeit der schnellen Schnitte, in unserer 1:30-Zeit.
Denn: Predigt ist konfrontierendes Reden! Ich gestehe, ich bin voller Sehnsucht nach Formen der konfrontierenden Rede. Sie ist eine dem Evangelium angemessene Form der Rede, hat mein theologischer Lehrer Peter Cornehl immer betont, diese Rede „von oben herab“. Ich mag nicht mehr Reden hören (auch meine eigenen nicht, wenn sie so sind), die die Konfrontation um alles in der Welt vermeiden, damit bloß möglichst viele Leute zustimmen können und ergriffen oder erleichtert in Beifallsbekundungen sich ergehen. Ich bin aber auch leid irgendwelcher Reden, in denen nur Parolen, statements oder Behauptungen aneinander gereiht werden, die ja nicht dadurch richtig werden, dass sie ständig wiederholt werden. Solche Reden leiten nirgendwo hin.
Also: Predigt ist im guten Sinne konfrontierendes Reden: der Prediger wird als „erster Hörer“ zunächst konfrontiert mit dem unverfügbaren Wort Gottes. Diese homiletische Wahrheit ist ausgedrückt in dem berühmten Satz von Karl Barth: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden.“ (1922). Das ist mir heilsame Begrenzung. Meine Autorität wird heilsam begrenzt und eingeschränkt und es wird mir selbst und allen anderen, die sich möglicherweise nach Autoritäten sehnen, heilsam eingeschärft, dass wir als Predigende in eine nicht delegierbare Verantwortung gestellt sind: Wir sollen IHN verkündigen– und nicht uns selbst!
Und erst jetzt – also aus dieser spezifischen Verantwortung heraus – konfrontiere ich nun die Hörenden mit dem, was ich als Gotteswort im Menschenwort meiner Predigt meine erkannt zu haben. Ich konfrontiere also die Hörenden zwar auch mit mir als Prediger, aber ich konfrontiere sie alle vor allem mit dem Wort Gottes selbst. Die Hörenden werden so konfrontiert mit Gottes Wort in Verheißung und Gebot – und natürlich ist Gottes Wort darauf aus, Einsicht und Zustimmung zu gewinnen. Aber genau dieses „Ziel“ der Predigt, nämlich Glauben zu wecken, Gewissheit in die Wahrheit Gottes zu vermitteln, das kann ich als Prediger nicht „machen“. Das muss der Heilige Geist selbst tun; Gott allein also kann dafür sorgen, dass meine Predigt zu einem „Erfolg“ wird. (Vgl. CA 5!)
Ich predige nicht auf eigene Rechnung! Die Folge kann – nach meiner festen Überzeugung – nur sein ein Verständnis von Predigt, das sich bedient einer lebendigen, demokratischen Rhetorik, einer Rhetorik, die auf Dialog angelegt ist, einer Rhetorik des besseren Arguments! Denn der Hörer oder die Hörerin muss angesprochen werden als eigenständiger, eigenverantwortlicher Mensch vor Gott. Er oder sie muss überzeugt werden – und nicht unterworfen! Insofern ist Predigt als konfrontierende Rede auch beeinflussende Rede – aber eben nicht überwältigende Rede. Gewiss, mit meiner Predigt will ich lehren, überzeugen und in Bewegung setzen Neues, Anderes, das quer steht zu dem, was schon da ist (docere, delectare, movere – nach der klassischen Rhetorik). Durch Sprache also schaffen eine neue, andere, bessere Wirklichkeit als die, die die Weltklugen für die allein wahre halten. Ich will „Gottes-Klugkeit“ lehren, überzeugend machen und in Bewegung halten. Aber eben „gewaltlos“ will ich das tun! Predigt als Macht, aber nicht als Gewalt; mit potestas, aber nicht als violentia; mit power, aber nicht als violence!
VI
Christliche Predigt verstehe ich zentral als Textauslegung. Es geht um die Auslegung eines biblischen Textes. Der Text der Tageslosung in ihrem jeweiligen Kontext oder der Predigttext eines Sonntags zwingen mich zu einer heilsamen Distanz zu mir selbst sowie zu einer heilsamen Distanz zu Anlass und Ort der Predigt. Natürlich muss ich mich selbst und auch die Hörenden wieder beziehen auf den Text – aber zunächst ist es gut und hilfreich, den Text erst einmal wahrzunehmen als ein mir und meiner Zeit fremdes Gegenüber. Diese heilsame Distanz ist notwendig, um der Gefahr einer vorschnellen „Anwendung“ oder „Verzweckung“ des Textes und seiner Botschaft entgegen zu steuern. Es könnte ja sein, dass das rechte Wort zur rechten Zeit gerade das sein muss: ein unzeitgemäßes Wort! Denn so wie die Tradition versprochen werden muss mit der Gegenwart – so muss auch die Gegenwart versprochen werden mit der Tradition. Wenn ich Kirche leite, reicht es nicht, anzusagen, wo es hin gehen soll. Wer losgehen will, braucht die stete Vergewisserung, woher er oder sie kommt!
Predigt ist – so verstanden – Wegzehrung für das „wandernde Gottesvolk“, lebendig und nahrhaft, weil sie weiß um die Schätze der Vergangenheit, um die Fülle der Gegenwart und um die Verheißungen der Zukunft.
VII
Biblische Wegzehrung für meine homiletischen Einsichten zur Leitung durch das Wort finde ich selber nur in der Vergewisserung im Hören. Leitung lebt aus Bildern, aus Leitbildern. Darum zitiere ich aus meiner Einführungspredigt in das bischöfliche Amt. In ihr ging es um einen wundervollen Absatz aus dem Prophetenbuch Ezechiel im 47. Kapitel:
„Und er führte mich wieder zu der Tür des Tempels. Und siehe, da floss ein Wasser heraus unter der Schwelle des Tempels nach Osten; … Und siehe, das Wasser sprang heraus aus seiner südlichen Seitenwand. Und der Mann ging heraus nach Osten und hatte eine Messschnur in der Hand, und er maß tausend Ellen und er ließ mich durch das Wasser gehen: Da ging es mir bis an die Knöchel. Und er maß abermals tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen: Da ging es mir bis an die Knie; und er maß noch tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen: Da ging es mir bis an die Lenden. Da maß er noch tausend Ellen; da war es ein Strom, so tief, dass ich nicht mehr hindurch konnte; denn das Wasser war so hoch, dass man schwimmen musste...
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, hast du das gesehen? … Und er sprach zu mir: Dies Wasser fließt hinaus in das östliche Gebiet und weiter hinab zum Jordantal und mündet ins Tote Meer. Und wenn es ins Meer fließt, soll dieses Wasser gesund werden, und alles, was darin lebt und webt, wohin der Strom kommt, das soll leben. … und alles soll gesund werden und leben, wohin der Strom kommt…Und an dem Strom werden an seinem Ufer auf beiden Seiten allerlei fruchtbare Bäume wachsen … denn ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum.“
Diese biblische Verheißung ist nicht nur Nahrung für meinen Lebensweg. Sie ist mir auch Bild und Gleichnis für die Gemeinschaft der Heiligen, die unterwegs ist, Gott zu entdecken und anzusagen. Gleichnis für seine Kirche – und sie ist zugleich Bild und Gleichnis für mein Verständnis von Episkopé, von Leitung allein durch das Wort. Wir wissen als Christenmenschen, wo die Quelle ist; wir wissen, dass wir immer wieder zu ihr zurückkehren müssen. Aber:
Der Glaube bleibt nicht an der Quelle stehen. Er weiß: Draußen erst wird sichtbar, was die Quelle kann! In der Welt, bei den Menschen entfaltet das Lebens-Wasser seine Kraft und wird zum Strom, der mitreißt. Darum muss Kirche aus sich heraus. Wie das Wasser aus dem Heiligtum unter der Schwelle hindurchfließt und aus dem Mauerwerk herausspritzt, so muss und darf Kirche „nicht ganz dicht“ sein. Das ist das eine Amt der Kirche: weitergeben, was wir selbst empfangen haben, erzählen von unserem Glauben. Und Wege zeigen zu den Früchten, die kein Ende haben inmitten der vergänglichen Welt.
Erzählen, woher die Kraft der Welt kommt, erzählen, worauf die Welt bauen kann… Das geschieht in jedem Gottesdienst, in jedem Gesprächskreis, in jedem seelsorgerlichen Besuch, in jeder Kasualie,… in unserer lebendigen Diakonie.
So möchte ich geistliche Leitung, so möchte ich mein Amt verstehen und das eine Amt der Kirche, das uns allen anvertraut ist, das der Verkündigung der Versöhnung nämlich: Den Weg weisen zur Quelle... Und dann immer aber auch wieder hinausführen, ermutigen, aufzustehen. Und das Staunen zu üben.Staunen über den Strom der göttlichen Kraft, die sich nicht einsperren lässt - auch nicht in Tempelmauern - die hinaus will, hinein in alles Leben, durchdringen alles, was zwischen uns ist. „…hast du das gesehen?“ Hast du das gesehen? Sieh nicht nur auf das, was versiegt, was nicht mehr ist wie es früher einmal war, nicht nur den kleinen Strom, das Rinnsal deiner Kraft. Sieh auch auf das, was wächst und gedeiht und Frucht trägt ohne Ende.
Wir haben keine Macht, wie die Welt sie kennt. Aber wir haben ein machtvolles Wort, das tröstet und zurecht bringt; das Orientierung gibt für den Weg des Lebens, Orientierung, nach der so viele Menschen fragen. Wir haben ein Wort, das das Kleine groß spricht und das in den Schwachen stark ist. Wir haben das Wort, das den Wert des Menschen bemisst nicht nach dem, was er kann oder leistet, sondern nach dem, was Gott in ihm sieht: sein Ebenbild. Dieses Wort, das Fleisch geworden ist in Christus, ist gefragt: es muss mehr geben als das, was zu sehen, zu berechnen ist; die Lebensfülle, wie wir sie kennen, die vergeht und schwankt, trägt nicht weit. Wir dürfen als von der Verheißung Gottes Gespeiste nicht schweigen, nicht vorenthalten das Wort des Lebens, das Fleisch werden will immer neu. Wir haben uns einzumischen, zu mahnen, zu ermutigen…“
VIII
„Die Kirche wird geleitet durch das Hören auf Gottes Wort und durch seine Auslegung“ – So haben wir es in die Verfassung für eine neue Evangelisch-Lutherische Kirche im Norden geschrieben. Und das genau will ich ernst nehmen – wie ich vielleicht mit dem Ausschnitt aus meiner Einführungspredigt vom November 2008 zeigen konnte.
Gewiss, es geht beim leitenden geistlichen Amt auch um harte und auch um ökonomisch zu verantwortende Entscheidungen. Es geht um viel „weltlich Ding’“. Vor allem aber geht es darum, zu verweisen auf den Grund unseres Kirche-Seins, den keiner legen kann außer dem, der gelegt ist, Jesus Christus. Es geht um Vergewisserung des Grundes immer neu. Und es geht um Vergewisserung der Verheißung, dass wir zwar Kirche in der Welt sind, aber nicht von der Welt. Dass wir als wanderndes Gottesvolk unterwegs sind, auf die Überwindung zu. „Seht zu, dass ihr Land gewinnt!“ – Dieses wunderbare Segenswort zu Beginn der Wanderung des Volkes Israel – es gilt auch uns.
Leiten mit dem Wort: Ich will die Menschen begeistern für das, was mich begeistert. Und das kann ich am besten, indem ich predige – also höre und auslege das Wort. Es gibt eine wunderbare Entlastung, finde ich. Und die will ich an den Schluss stellen:
Unübertroffen ist für mich, wenn ich an Leitung denke, das Modell des Mose. Als der am Ende seiner Kräfte ist, wendet er sich an Gott: „warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen, dass du die ganze Last des Volkes auf meine Schultern legst? ...es ist mir zu schwer!“ „Sammle siebzig von den Ältesten Israels“, antwortet Gott, „…so will ich hernieder kommen und mit dir reden und von dem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, damit sie die Last des Volkes tragen und du nicht allein tragen musst…“ „Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf…“
Der Text aus dem 4. Buch Mose geht weiter. Das Schönste kommt noch. Ich liebe diese beiden Figuren Eldat und Medad! Diese beiden gehören zu meinen Lieblingsfiguren aus der Bibel. Diese wunderbare Freiheit! Diese Naivität der Propheten, die gar nicht wissen, dass sie welche sind! Ich mag diese anarchistische Doppelstruktur: da sind zwei, die sich drücken wollen. Und trotzdem geraten sie in Verzückung, geraten sie aus dem Häuschen – im Lager, da wo sie sich sicher fühlten vor jeder Verantwortung, weit weg vom Zentrum geistlicher Leitung. Weit weg von den leitenden Kirchenbildern der Leitenden.
Der Geist Gottes lässt sich nicht einbinden in Strukturen und Modelle. Er findet, völlig unbeirrt, die er braucht für sein Reich! Wie wunderbar entlastend das ist! Und natürlich gibt es einige, die damit nicht zurecht kommen, dass ganz außerhalb jeder Geschäftsordnung und Liturgie Leute aus der Verfassung fallen und sich begeistern lassen. Es wird natürlich sofort gemeldet: Eldat und Medat sind in Verzückung im Lager! „Wehre ihnen!“ – sagt Josua voller Sorge, dass solche Verzückung außer der Reihe stören könnte und vielleicht Mühe und Arbeit bereitet, weil keine Steuerungsgruppe der Welt einfangen kann, was Gott selbst sich sucht. Ach was, sagt Mose. Lasst sie! „Wollte Gott, dass alle im Volk des Herrn Propheten wären und der Herr seinen Geist über sie kommen ließe!“ Ein wahrhaft leitendes Wort mit weiter homiletischer Einsicht: Leitung muss damit rechnen, dass das Wort, dass Leitung – geschieht!