WS 2019/20
Über Zeitschriften, Ethik und die eigene Entwicklung
Dr. Wenke Liedtke
Eine Auswahl an Möglichkeiten
Bahnreisende kennen die Situation nur zu gut: Zugverspätung! Was nun? Hier erschließen sich den routinierten Bahnreisenden beispielsweise zwei
Möglichkeiten. Zum einen gibt es den Weg zum nächstliegenden Kaffeeversorger, der Wärme und Durchhaltevermögen sichert, oder – zum anderen – man erkundet die zahlreichen Buchläden, die zumindest den Eindruck vermitteln, die Menschheit wäre ein emsiges Lesetier. Vielmehr aber bietet auch dieser zunächst lediglich Ablenkung oder Wetterschutz. Allerdings kann dieser Aufenthalt zu manch interessanten Beobachtungen führen.
Prädestiniert für solche Beobachtungen sind die Lifestyle-Zeitschriften- und Bücherecken. Sie bilden häufig die neuesten Trends und Lebensvorstellungen ab, wie ein besseres bzw. gutes Leben zu erreichen wäre. Dazu gibt es dann auch gleich Tipps, Listen oder Anleitungen. Ob das bessere Leben durch mehr Achtsamkeit mit Hilfe von Meditation oder Kommunikation, durch effizientes Arbeiten mit Unterstützung von Bullet Journals oder neu, im Angebot, durch Ausmisten – neudeutsch Decluttering – der eigenen vier Wände erreicht werden kann, wird sich zeigen. Die EthikerInnen mögen sich zu diesem Zeitpunkt fragen, ob das wirklich alles so neu ist. Denn bei genauerem Hinschauen kann man den ein oder anderen philosophischen oder theologischen Klassiker dahinter erkennen.
Natürlich sollte in diesem Zusammenhang nicht die "christliche Ecke" fehlen. Manchmal findet sie sich ganz nah, manchmal eher weiter entfernt. Doch egal in welchem Abstand sie sich befindet, sie reiht sich ein in ein Konglomerat unterschiedlicher Lebensansätze, die Fragen nach ethischen Grundhaltungen aufkommen lassen.
Ethik, Ethiken...und Moral
Um nun zu verstehen, was sich hinter einer ethischen Grundhaltung verbirgt und wie diese untereinander zu vergleichen wären, ist der Begriff der Ethik zu klären. Vorweg, die Ethik als singuläres Konzept gibt es nicht. Das sollte mit Blick auf die unterschiedlichen Lebensentwürfe nicht überraschen. Das kann als ein Dilemma oder als Chance und Herausforderung wahrgenommen werden, das menschliche Handeln besser verstehen zu wollen.
Wenn man von der Ethik im Alltagsgebrauch redet, wird damit häufig etwas Gutes, Rechtes oder Faires; im Großen und Ganzen etwas Gerechtes assoziiert. Ethisch zu handeln ist ein positiv besetzter Begriff, der für viele eine Richtungsanweisung enthält, der es zu folgen gilt.
Sofern der Begriff der Ethik in den Bereich der Wissenschaft transportiert wird, kann diese Beobachtung aufrechterhalten werden. Auch hier spielen die Begriffe des Guten, Rechten und Fairen eine besondere Rolle und bilden gewöhnlich Kriterien, Kategorien oder gar Ziele des Handelns, die eine ethische Theorie vervollständigen. Sowohl in der Alltagssprache als auch in der Wissenschaft steht die Bewertung des menschlichen Handelns im Mittelpunkt. Während jedoch in der Alltagssprache der Mensch bzw. Kollektive als „ethisch“/ „unethisch“ ausgewiesen werden und damit einer Fehlbezeichnung unterliegen, die eher „moralisch“/ „unmoralisch“ lauten sollte, wendet sich die Ethik als Wissenschaft der Reflexion der eigentlichen Kriterien für ethisches Handeln zu. Damit kann eine der Hauptaufgaben der Ethik als Wissenschaft bezeichnet werden, die Erfassung und Diskussion sowie die Reflexion der so genannten Moral, also der vorhandenen Normen und Normensysteme. Daraus folgt auch, dass Ethik und Moral keine gleichwertigen Begriffe sind, sondern dass die Ethik unter anderem eine kritische Reflexion von Moral sein kann; von zukünftiger als auch von bereits vorhandener.
Das gute Leben
Die Bewertung der Normen und Normensysteme kann sodann unter der Frage des guten Lebens vollzogen werden. Tragen also die Normen zu einem guten Leben des bzw. der Menschen und vielleicht sogar des Tier- und Pflanzenbereiches bei oder laufen sie diesen entgegen? Welche Bedingungen sind einzurichten, damit das gute Leben erreicht werden kann? Was muss verändert oder geschaffen werden, damit gutes Leben überhaupt die Möglichkeit hat, sich auszubreiten? Diese Fragen beschäftigen EthikerInnen sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene. Dabei kann es sich um sehr theoretische Gebilde handeln, aber auch um die praktische Umsetzung von bestimmten Bedingungen oder Normen. Sofern etwa gutes Leben im Sinne eines achtsamen Lebens verstanden wird, Achtsamkeit auf sich selbst und die eigene Umwelt im sozialen und biologischen Sinne, kann Meditation als eine mögliche Umsetzung herangezogen werden. Hinter der modernen Vorstellung des Declutterings steht nicht nur der Gedanke der Nachhaltigkeit und des Umweltbewusstseins, sondern sicherlich auch der Gedanke einer zunehmen Abhängigkeit von Konsumgütern, die etwa schon vor Jahrtausenden in der Form der Askese versucht wurde, zu beenden. Um aber zu bewerten, ob entsprechendes Handeln als gut oder schlecht, richtig oder falsch bezeichnet werden kann, bedarf es nicht nur eines ethischen Vorwissens, sondern einer ersiertheit im Umgang mit ethischen Methoden. Ansonsten verbleibt jede Diskussion über Moral oder Normen auf einer maximal populärwissenschaftlichen Ebene, die häufig stichhaltiger Argumente entbehrt.
Wer also Decluttering, Bullett Journals oder Achtsamkeit als neumodische Erscheinungen abtut, verschließt sich zumindest der Anerkennung, dass hier alte Normen in neuen Gewändern verarbeitet werden. In dieser Weise werden durch die neuen bzw. alten Trends ethische Auseinandersetzungen geführt, wenn auch nicht immer vordergründig, die in ähnlicher Weise in biblischen oder theologischen Aussagen gefunden werden können.
Ethik und Theologie
Herausragend für das Verstehen von ethischen Grundhaltungen und das Differenzieren der verschiedenen Lebensentwürfe ist die Begründung der ethischen Normen, die sich aufgrund verschiedener Welt- und Menschenbilder unterscheiden kann. Das bedeutet, dass die ethische Begründung erster Normen, den ursächlichsten Unterschied für die verschiedenen Moralen und Normen bildet.
Nun wäre mit Blick auf die Theologie – speziell auf das protestantische Christentum – anzunehmen, dass die Begründung von Moral und Normen einheitlich wäre. Dem, so kann sofort entgegensetzt werden, ist nicht so. Auch in der protestantischen Tradition ist Ethik nicht gleich Ethik und Norm nicht gleich Norm. Das kann frustrierend sein. Aber auch hier zeigt sich, dass zwar gemeinsame Ursprünge verbinden, jedoch Interpretation und Schlussfolgerung unterschiedlich ausfallen können. Gleichzeitig kann die Ethik im Verhältnis zur Dogmatik mit unterschiedlichen Schwerpunkten besetzt werden, was dazu beiträgt, dass ethische Normen und die Moral, verschiedentlich ausfallen. Eine sehr liberale Theologie wird die Ethik eher in den Vordergrund stellen und sie mit Blick auf einen lebensweltlichen Pluralismus öffnen, auch für andere Kulturen und Entwürfe. Dagegen zeigen eher konservative Entwürfe eine Ableitung der Ethik aus der gesetzten Dogmatik, so dass Ethik eine sehr spezielle christliche Nuance erhält.
Die Spielarten der Ethik sind damit also auch hier recht breit gefächert und können nicht einfach als eine Ethik betrachtet werden. Das Verhältnis der Ethik zur Dogmatik bildet dabei einen Schwerpunkt zum Verständnis ethischer Normen in der christlichen Tradition und Gegenwart.
Ein weiterer Schwerpunkt kann in der Betrachtung der biblischen Texte gesehen werden, die ethische Normen vorgeben. Da der biblische Text ethische Normen der Antike abbildet und diese nicht immer stringent logisch begründet, muss auch hier die ethische Betrachtung, wie bei zahlreichen anderen Texten, deren Autoren uns nicht mehr Rede und Antwort stehen können, interpretatorisch analysiert werden. Hier zeigt sich ein Dreh- und Angelpunkt. Denn das kann bedeuten, dass im subjektiven Sinne mit den eigenen Interessen interpretiert wird oder es kann objektiv bedeuten mit Blick auf allgemein festgesetzte wissenschaftliche Kriterien. Diese unterschiedlichen Interpretationen biblisch-ethischer Normen zeigen sich in der Geschichte des Christentums. Erinnert sei an die vielen Frauen und Männer, die im Namen einer zunächst nicht weiter begründeten Handlungsnorm – „Eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen“ (Ex 22,17) ihr Leben lassen mussten. Die Vereinnahmung biblischer oder christlicher Normen auch für weltliche Interessen hält bis heute an. Gerade vor diesem Hintergrund muss eine ausreichende Begründung ethischer Normen, insbesondere wenn es die Existenz betrifft, mit aller Deutlichkeit gefordert werden.
Ebenso ist die Auseinandersetzung mit den ethischen Texten der Bibel vor dem Hintergrund einer Abbildung ethischer Normen aus unterschiedlichen Jahrhunderten zu betrachten. Ethische Normen im Alten Testament mögen andere Schwerpunkte und Beziehungen abbilden als ethische Normen des Neuen Testaments. Ethische Aussagen von Jesus selbst weisen auf diesen Umstand hin, indem er verschärft bzw. bestimmte Normen entschärft.
Die exklusive Übernahme ethischer Normen der biblischen Texte ist also schon textintern nicht zwangsläufig gegeben.
Verschiebungen und Einwürfe
Sofern der Blick über die eigenen biblischen Grenzen hinausgeworfen wird und das wissenschaftliche und kulturelle sowie gesellschaftliche Umfeld des jeweiligen Textes beleuchtet wird, sollte ersichtlich werden, dass auch biblische bzw. christliche Texte keine Räder im eigentlichen Sinne neu erfunden haben. Das philosophische Umfeld vieler der Autoren der Texte weist Aufnahmen oder bewusste Abgrenzungen zu den jeweils existierenden Diskursen auf. Zu denken ist an Paulus und den Stoizismus, an die Haustafeln des Kolosser- und Epheserbriefes mit ihren hierarchischen Beziehungsmodellen, die einer aristotelischen Polis-Oikos-Darstellung ähneln; ein Thomas von Aquin ist ohne Aristoteles’ Tugendbegriff in seiner Gänze nicht zu verstehen. Das soll nicht die Errungenschaften christlicher Ethiken schmälern, aber es soll verdeutlichen, dass auch die christlichen Ethiken nicht ohne eine Auseinandersetzung mit existierenden außerchristlichen ethischen Entwürfen das werden konnten, was sie sind. Was christliche Ethiken von anderen Ethiken zunächst abhebt, sind besondere Schwerpunktsetzungen, die im Laufe der Jahrhunderte weiter verdichtet und begründet wurden. Eines der großen Merkmale christlicher Ethiken ist sicherlich die Spezialisierung auf die Nächstenliebe, die als eines der Hauptkriterien für gutes Handeln und in Folge besseren Lebens herausgestellt werden kann. Die Nächstenliebe per se ist kein Alleinstellungsmerkmal, zahlreiche andere Religionen weisen darauf hin, philosophische Schriften stellen die Liebe zu einem Nächsten, häufig einem Freund, der also keiner familiären Beziehung entspringt, sondern eine rein freiwillige Zuwendung ist, als maßgeblich für gutes Leben heraus. Für Epikur etwa war die Freundschaft eines der wichtigsten Güter zum Erreichen eines guten Lebens. Ein Leben ohne Freundschaft wäre für Epikur ein unerfülltes und unglückliches Leben. Daher muss für Epikur das Pflegen einer freundschaftlichen Beziehung zu einer der Hauptaufgaben ethischen Handelns zählen. Die christliche Nächstenliebe allerdings umfasst eine weitere Komponente, und darin ist sie von Besonderheit. Der Nächste ist nicht nur die Familie oder der Freund oder der Bekannte, sondern auch der Feind. Ein Affront, fast schon den Feind zu lieben. Wer Feinde hat, wird das nachvollziehen können. Ein Rad wird also nicht neu erfunden, sondern es wird verändert. Vielleicht erhält es andere Speichen, andere Farben, einen anderen Schlauch und manchmal erhält es auch zusätzliche Teile, die es zu einem „neuen“ Rad werden
lassen.
Eine Welt – viele Gesichter
Diese Räder können in der Welt umherfahren und für unterschiedliche Menschen gibt es verschiedene Räder bzw. Zeitschriften. Aber der moderne Mensch steht vor dem Zeitschriftenregal der Lebensentwürfe und er steht vor der Wahl, welche Zeitschrift es auszusuchen gilt und mit welcher Zeitschrift er sich am besten zurechtfindet.
Für Theologie- und Religionspädagogikstudierende stellt diese Auswahl einen ebenso hohen Anspruch an die Fähigkeiten der Wahl dar wie für alle anderen Menschen. Der Unterschied besteht darin, dass die Studierendengruppen mit Blick auf ihre jeweiligen Ausbildungen und anvisierten Berufe und Zielgruppen in der Folge selbst als Bildungsvermittler verantwortlich sein werden. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, bedarf es der Fähigkeit, sich im Zeitschriftenregal der Lebensentwürfe zurechtzufinden, um dann eventuell als Wegweiser zu arbeiten. Insbesondere mit Blick auf die zukünftige Arbeit der Theolog*innen und Religionspädagog*innen kann es nicht das Ziel sein, als zurückgezogene Wissenschaftler*in zu agieren, die jeglichen Bezug zu aktuellen politischen und gesellschaftlichkulturellen Ereignissen ausblendet. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit aktuellen Trends, sofern sie ethikähnliche Strukturen aufweisen. Hier geht es ja nicht nur um die Bewertung dieser Tipps oder Vorschläge, sondern auch um die Bewertung möglicher Folgen, die damit verbunden sind und damit um eine Weitsicht hinsichtlich der Trends wie Achtsamkeit oder des Declutterns übervoller Kleiderschränke. Ethische Fragen, also Fragen „Wie soll ich leben?“ oder „Wie soll ich in einer bestimmten Situation handeln?“, lassen sich nicht beschränken auf einen bestimmten Themenbereich oder ein bestimmtes Welt- oder Menschenbild. Insofern müssen die Theologie- und die Religionspädagogikstudierenden befähigt werden, mit verschiedenen ethischen Antworten umgehen zu können. Selbst die beobachteten Trends weisen bei näherer Betrachtung ethische Argumentationen auf.
Über den Tellerrand hinaus oder Zeitschriftenschau
Die bisherigen Überlegungen weisen auf den Umstand hin, dass eine ethische Ausbildung für Theologie- und Religionspädagogikstudierende unumgänglich ist, gerade auch mit Blick auf die Vermittlung und kritische Analyse eines Lebensentwurfes. Damit wird immer auch die Frage nach dem guten Leben in den Mittelpunkt gestellt. Daher kann es nicht darum gehen, in einer exklusiven und abgekapselten Art und Weise die fachlichen Inhalte zu studieren, sondern der Blick sollte über den eigenen Tellerrand hinausgehen.
Zunächst können daher sechs mögliche Gründe für die Notwendigkeit einer ethischen Ausbildung genannt werden:
(1) Ethische Normen, Entwürfe, aber auch entsprechende Umsetzungsmöglichkeiten und Tipps, wie sie etwa genannte Zeitschriften bieten, müssen hinsichtlich ihrer Herkunft und Begründungsstruktur verstanden werden. Diese muss sodann auch philosophisch-ethische Inhalte umfassen, denn, so zeigt sich, biblische bzw. christliche Normen sind auch in der Auseinandersetzung mit antiken philosophischen Normen entstanden. Daraus folgt, dass auch nicht-theologische Ansätze zur eine Begründung ethischer Normen und Entwürfe erläutert und analysiert werden müssen.
(2) Erst aufgrund der Erfassung ihres Ursprungs und ihrer Deutung kann eine echte Abgrenzung der eigenen Normen zu eben jenen anderen Normen geschehen. In dieser Weise nimmt die Ausbildung einer ethischen Kompetenz Bezug auf den Pluralismus mit seinen unterschiedlichen
Lebens- und Menschenbildern.
Nun können Umsetzungsmöglichkeiten wie Achtsamkeit, Decluttering oder Bullet Journals in Hinblick auf ihre ethisch-normativen Implikationen bewertet werden. Diese Abgrenzung von Normen verweist nicht nur auf unterschiedliche Lebensentwürfe und stellt die Studierenden vor die Aufgabe der Entwicklung einer Pluralitätsfähigkeit, die als eine ethische Bildungskomponente genannt werden kann, (3) sondern sie verweist auch auf die kulturellen geschichtlichen Veränderungen, denen ethische Normen und Entwürfe ausgesetzt sind. Daher kann das Erfassen und die kritische Reflexion kultureller und geschichtlicher Veränderungen ethischer Normen und Entwürfe als eine dritte Begründung für die Notwendigkeit einer ethischen Ausbildung genannt werden. (4) Nahe dieser Begründung steht eine vierte, nämlich die kritische Validierung und Überprüfung ethischer Normen und Entwürfe. Und gerade an diesem Punkt zeigt sich, dass die Umsetzungsmöglichkeiten, wie sie in den Zeitschriften genannt werden, häufig eine stringente und kohärente ethische Begründung vermissen lassen. Wie bereits zum Anfang angedeutet können diese Anwendungen von unterschiedlichen Lebens- und Menschenbildern begründet werden. Achtsamkeit spielt beispielsweise sowohl im christlichen, buddhistischen, aber auch im utilitaristischen Menschenbild eine besondere Rolle.
Die genannten vier Begründungen weisen auf klassische Schritte der Analyse und Diskussion wissenschaftlicher Diskurse hin. Die folgenden zwei Begründungen dagegen öffnen den Blick der Studierenden auf sich selbst und auf die Welt, denn die Auseinandersetzung mit Ethik kann auch die eigenen Einstellungen berühren. (5) Daher steht als eine fünfte Begründung die Auseinandersetzung mit Ethik unter persönlichkeitsfördernden Aspekten. Die ursprüngliche Frage der Ethik „Wie soll ich leben?“ stellt die Studierenden vor die eigenen existenziellen Fragen und fordert sie heraus. In dieser Weise können eigene Begründungen und Zusammenhänge analysiert und diskutiert werden, um so eigene Sinnfragen hinsichtlich des Lebens, des Sterbens und des Seins zu beantworten und zu reflektieren.
(6) In ähnlicher Weise schließt eine sechste Begründung an, die den Blick auf die Gesellschaft und die Welt als Ganzes richtet. Denn Ethik fragt nicht nur „Wie ich leben will/soll?“, sondern sie fragt: „Wie wollen/sollen wir leben?“. Dieser Fokus sollte gerade mit Blick auf eine Verantwortung für zukünftige Generationen nicht unterschätzt werden. Sofern also angenommen wird, dass wir eine Verantwortung etwa für die Schöpfung Gottes haben, müssen wir uns mit der Frage der Umwelt, der zunehmenden Technisierung, unserem Verhältnis zu Tieren und etwa unserem Verhältnis zu anderen Menschen auseinandersetzen.
Der frierende Bahnreisende mit seinem heißen Kaffee und seiner Zeitschrift über Achtsamkeit, Decluttering oder Bullett Journals mag sich zu diesem Zeitpunkt der unreflektierten und potentiellen Anwendung genannter Tipps hingeben. Aber auch ihm sollte zumindest im Hinterkopf bewusst zu sein, dass entsprechende Tipps auf mehr als einer fixen Idee beruhen. Für die Studierenden der Ethik jedoch stellt die Einbettung und Fundierung der Anwendungsmöglichkeiten in ethische Konzepte die Möglichkeit der thematischen Auseinandersetzung und kritischen Reflexion dar. In dieser Weise geschieht nicht nur eine kritische Reflexion der realen aktuellen Welt, in welcher die Studierenden beruflich zukünftig tätig sein werden, sondern es fordert die Bahnreisenden beziehungsweise die Studierenden heraus, kritische Fragen an das eigene Sein zu stellen.