SS 2017

„Über Kreuz Sein“

Vom Paradox der Toleranz, der Fremdheitserfahrung, der christlichen  Identität und dem Versuch kreativer Antworten

Katharina Gladisch 

„Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Dieser Ausspruch Martin Luthers auf dem Reichstag zu Worms soll nur Legende sein, aber ist deswegen – man unterscheide story und history – nicht weniger wahr. Sondern zeugt in fast schon rührender Weise von Gewissheiten im Leben und dem Kreuz mit ihnen. Hier spricht einer von seinem Standpunkt, in einem kognitiven Sinne also von seinen Überzeugungen, von denen er nicht weichen kann (vielleicht sogar wollte, aber nicht kann), in einem existentiellen Sinne von seiner Lebenswelt, seiner Heimat, schließlich in einem emotionalen Sinne von seinem Gewohnten und Vertrauten, von den Habseligkeiten seines Lebens, dem Unverzichtbaren, Unaufgebbaren, dem Kostbaren.  

In dem folgenden Essay soll es um Standpunkte in interreligiösen Begegnungen gehen: um ihre Unerlässlichkeit, aber auch um ihre zeitweilige Unerträglichkeit, um Befremdung, die andere Lebensansichten und Lebensweisen auslösen können und wie man diese aushalten und vielleicht sogar kreativ ausagieren, aber nicht wegwischen und überwinden kann.

 

1. Hier und nicht Dort

Denken wir die Begegnung mit anderen Menschen in einigen Bildern, denn manchmal ist Bildern, Poesie, Kunst und Ritual in zwischenmenschlichen Begegnungen mehr zuzutrauen, als dem in unserer kulturellen Tradition häufig bemühten Forum der Vernunft. Das erste ist dieses: Sie stehen vor einer Wanderwegekarte an einem Waldparkplatz und studieren die Route, die Sie gehen wollen. Was fällt Ihnen als erstes ins Auge? Richtig, der rote „Sie sind hier“ -Punkt. Von hier aus wandern Sie los, hierher kehren Sie wahrscheinlich zurück (es sei denn, ein Shuttleservice bringt Sie wieder zum Auto), das heißt, auf Ihrem Weg durch den Wald sind Sie an einer bestimmten Stelle verortet. Im Leben hieße das: Sie haben einen bestimmten Ort, von dem aus Sie agieren, Sie sind nicht heute hier, und morgen dort (selbst wenn Sie sich bewegen), sie haben einen vertrauten Heimatort (oikos).  Die Begegnung zweier Menschen findet entsprechend zwischen Heimatort und Heimatort statt und somit nicht wirklich auf Augenhöhe, sondern wie in einem schiefen Blickwinkel, denn mein Vertrautes, meine Heimat, hat im Verhältnis zum Anderen so etwas wie eine Erhabenheit, denn meine Heimat ist ja nicht eine unter vielen, sondern genau meine eine geliebte, so dass eine Asymmetrie entsteht zwischen meinem Aufenthaltsort und dem des Anderen.

Das bringt mich zum zweiten Bild: Stellen wir uns das Ganze wie in einem Haus vor, in dem sich zwei Menschen aufhalten, wie in verschiedenen Zimmern. Von außen auf das Haus blickend sehen wir wie in einem Grundriss mehrere Zimmer auf einer Ebene, die gewissermaßen austauschbar wären. Innerhalb des Hauses befinde ich mich in dem einen Raum, und der andere in einem anderen, ich Hier und er Dort, nicht getrennt durch eine Linie, sondern durch eine Schwelle. Die Vernunft setzt hier Dinge gleich, die sich im gelebten Leben nicht als gleich zeigen, sondern als asymmetrisch. Eine Außenperspektive und die Vernunft könnten mir wohl sagen, dass der christliche und der muslimische Glaube nur zwei Räume im Grundriss des Hauses der Religionen sind, aber als Christin befinde ich mich ja in genau einem Raum dieses Hauses und das prägt meinen Blick, mein Handeln, meine Wahrnehmung unvermeidbar. Es zeigt sich hier, in einem phänomenologischen Sinne, nicht in einem wertenden: Wo du bist, kann ich nicht sein – ich kann zwar hingehen, zu dem Ort, an dem du bist, aber ich tue es immer von meinem Ort aus, von anderswoher und trage dieses anderswoher ein in den Aufenthalt an deinem Ort. Wir stehen somit niemals am selben Ort, haben entsprechend – grundsätzlich gesehen – niemals denselben Standpunkt, seien die geteilten Überzeugungen auch noch so groß.

 

2. Ordnung und Unordnung – oder vom Putzfimmel der Ratio

Wir bleiben noch beim Bild des Hauses. Mein Raum in dem Haus entspricht der Ordnung, in der ich lebe, so etwas wie mein geregelter Lebenszusammenhang. Meine Ordnung kann ich erweitern, sonst wäre Leben denkbar statisch, das heißt, es gibt sowas wie Horizontgrenzen, die ich verschieben bzw. erweitern kann, aber auch verengen, je mehr ich kennenlerne, je mehr ich erfahre, jedoch immer nur im Rahmen meiner übergreifenden Ordnung. Hier müssen wir die Begriffe „anders“ und „fremd“ unterscheiden. Wenn ich mit dem Zug von Rostock nach Karlsruhe fahre, wo ich noch nie war, dann erweitere ich meinen Horizont, aber ich bewege mich grundsätzlich im Rahmen meiner Ordnung, denn Karlsruhe ist nicht viel anders als Rostock und ich werde mich vermutlich relativ problemlos dort bewegen und einfinden können. Karlsruhe ist anders, aber nicht fremd. Fahre ich allerdings von Rostock nach Tokio, ist es recht wahrscheinlich, dass ich mich dort fremd fühle. Dann habe ich nicht meinen Horizont erweitert, sondern ich habe eine Schwelle gespürt und überschritten und im Überschreiten gemerkt, dass ich von anderswoher komme, möglicherweise anderswohin gehöre. Fremdheitserfahrungen bedeuten die Konfrontation mit solchen Schwellen, bedeuten einen Einbruch im Leben, eine unauslöschliche Irritation, die auch im Umgang mit der Irritation stets virulent bleibt. Dabei gibt es, das ist wichtig zu sagen, keine klaren Kriterien, nach denen fremd und anders zu unterschei-den wären, denn wenn ein New Yorker nach Tokio fährt, ist er vielleicht genauso wenig irritiert, wie ich, wenn ich nach Karlsruhe fahre. Fremdheit liegt also nicht in New York, Rio, Rosenheim, sondern in der erlebten Irritation, mehr vielleicht noch in der Störung in meinem Leben. Wenn Ordnung in Unordnung zu ge-raten droht, wenn sie brüchig zu werden droht, dann können wir von Fremdheitserfahrung reden. Was die Vernunft tut, ist klar: aufräumen. Schnell einzuordnen versuchen, was passiert, schnell gleichmachen. Die Vernunft hat – so könnte man meinen – einen Putzfimmel. Sie will schnell wegwischen, was uns zu schaffen macht, dass hier etwas eindringt in mein Leben, was alles ändern könnte, was ich nicht verstehe, was ich nicht greifen kann. Sie will nur nicht wahrhaben, manchmal, die Ratio, dass wirkliche Einbrüche nicht zu kitten sind. Der interreligiöse Dialog – und Dialog kommt von dia logos (durch die Vernunft) – hat lange Zeit daran gekrankt, dass die existentiellen und emotionalen Einbrüche, die durch Fremdheitserfahrungen entstehen, redend weggewischt werden sollten, aber trotzdem spürbar weiter wirkten. Und dabei ist auch hier kein klares Kriterium für Fremdheitserfahrung festlegbar: Fremd ist nicht der Islam oder der Buddhismus oder der Atheismus, sondern quer zu allen Ordnungssystemen ist Fremdheit das, was in mein Leben plötzlich als störend einbricht, das kann mir als Christin auch in der Begegnung mit einem Christen passieren.

 

3. Der Stachel des Fremden setzt in Bewegung, aber er dringt auch ins eigene Fleisch.

Dieses Diktum von Bernhard Waldenfels, der mit seiner Phänomenologie des Fremden das Gedankengerüst für diese Ausführungen bietet, bringt uns zu einem neuen Bild: Den Einbruch des Fremden in mein Leben kennzeichnet er nicht nur als einen akuten Stich, der schmerzt und dann wieder abheilt, sondern als einen bleibend im Fleisch steckenden Stachel, mindestens aber als einen Stachel, der einmal so tief eingedrungen ist, dass dieses Erlebnis bleibend spürbar ist (auch sollte der Stachel nicht mehr da sein). Insofern können wir bei Fremdheitserfahrungen von Ereignissen sprechen, die das Leben sichtbar und spürbar prägen, was zugleich bedeutet, dass die Begegnung mit Fremdheit eine leibliche und nicht nur rein intellek-tuelle Erfahrung ist und somit auch leiblich und nicht nur intellektuell beantwortet werden muss. Der Satz „Der Stachel des Fremden setzt in Bewegung, aber er dringt auch ins eigene Fleisch“  ist ein Schwergewicht in Waldenfels` Ausführungen und einer der Basissätze für Fremdheitserfahrungen in zwischenmenschlichen Begegnungen und auch in interreligiösen. Interessant ist, dass man kaum weiß, auf welchem Teil des Satzes denn der Fokus liegt: dass Fremdheitserfahrung in Bewegung setzt, oder dass sie bleibend weh tut. Dies ist so gewollt, weil beides gleich wahr und wichtig ist: Waldenfels‘ Konzept ist ein hochdynamisches; d.h. entgegen dem ersten Eindruck schätzt er Fremdheits-erlebnisse als unverzichtbar für unsere persönliche Entwicklung, weil sie unsere statischen Ordnungen anfragen und vor Augen führen. Wir selbst werden uns wie in einem Spiegel vorgeführt in unserem wohligen Eingerichtetsein, in unserem müden, vermeintlichen Durchblick im Leben, in unserer selbstverliebten Statik. Nicht nur das Fremde ist uns fremd, sondern es wirkt so in unser Leben hinein, dass wir uns selbst fremd werden, oder zumindest fraglich. Dies hält Waldenfels für ein unverzichtbares Aufgerüttelt-Werden unserer Egozentrik. So habe ich mein Kreuz nicht nur mit dem Fremden, sondern auch mit mir selbst. Und: Ich bin zwar hier, und nicht dort, aber wer ich bin, weiß ich deshalb noch lange nicht, was auch ein bisschen demütig macht und wiederum schmerzt und deshalb der zweite wichtige und wahre Teil dieses Satzes: Der Stachel dringt ins eigene Fleisch: das Fremde tut mir weh – es schmerzt und das kann ich nicht auflösen, nur aushalten. Was mit dem Tübinger Systematiker Christoph Schwöbel gesprochen ja auch der Inhalt eines starken Toleranzbegriffes ist: der eben nicht heißt: kann ja jeder machen, wie er will, sondern „tolerieren kann und muß ich nur, womit ich nicht übereinstimmen kann“ , ich würde das ganze erweitern um: tole-rieren kann und muss ich nur, was ich nicht aushalten kann. Das bringt uns zum Paradox der Toleranz: dass ich etwas aushalten will, was ich manchmal kaum aushalten kann. Ich sage „aushalten will“, weil ich Toleranz nicht als einen deskriptiven Begriff verstehe, sondern als einen normativen Begriff, als einen moralischen Anspruch. Ich verlange also etwas von mir, was ich kaum leisten kann. Diesem Anspruch gilt es in Begegnungen mit anderen Menschen nachzueifern, aber auch dem gelegentlichen Scheitern an ihm Raum zu geben. Dass Christen und Muslimas oder Christinnen und Atheisten oder Christen und Christinnen zuweilen überfordert  und frustriert sind im Umgang miteinander, ist normal, muss aber sowohl intellektuell, vielmehr aber emotional aufgefangen werden. Und auch der Frust, der entsteht, wenn ich meinem eigenen Anspruch nach einem toleranten Umgang nicht nachkommen konnte, wenn ich gescheitert bin, wenn ich es eben mal nicht aushalten konnte, das Fremde, sondern abgewehrt habe, oder vielleicht sogar bekämpft. Viele Probleme entstehen in zwischenmenschlichen Beziehungen ja bekanntermaßen, wenn Scheiterns- und Konflikt- und Entfremdungserfahrungen im Miteinander nicht verarbeitet werden, sondern bewusst oder unbewusst gegen den Anderen oder (vielleicht schlimmer noch) gegen sich selbst gewendet werden.

 

4. In der Sackgasse oder: sein Kreuzchen machen

Im immer wieder unfassbar schweren Ringen um echte Toleranz (und nochmal: nicht die viel beschworene, seichte Zeitgeistforderung nach Toleranz, die ja nicht errungen werden muss, sondern für aufgeklärte Menschen scheinbar spielerisch leistbar ist), landen wir auf diese Weise zu Zeiten in einer Sackgasse aus moralischem Anspruch und erlebter Unfähigkeit. Das bringt mich zum Bild des Schauspielers Edgar Selge, der sich - in der Aufführung des Hamburger Thalia Theaters von Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ - einen ganzen Theaterabend lang in einem ausgehöhlten Kreuz-Korpus bewegt. Der Autor beschwört in diesem Stück die Gefahr der schleichenden Islamisierung Frankreichs herauf und imaginiert, dass die Unterwerfung unter den Islam nur eine Frage der Zeit sei. Warum Karin Beyer dieses Stück als Monolog eingezwängt in den Rahmen und Spielraum eines Kreuzes inszeniert, weiß ich nicht, aber sehr symbolisch ist es allemal, in dem Sinne, dass die Toleranzfrage mit unerträg-lichen Ansprüchen hier spielend mit so viel Schwere und Bedrängung und Scheitern gezeigt wird, und alles andere als spielerisch. Dennoch wird hier quasi ein Kreuzchen gesetzt für das spielende und dabei ganz ernsthafte Ausagieren gesellschaftlich schwerwiegender und zu schaffen machender Themen. Und darum muss es meines Erachtens auch gehen: dass wir die Unvereinbarkeiten und das Befremdliche und das Unverständliche und das Schmerzende irgendwie ausagieren können, anstatt es wegzurationalisieren oder in falsch verstandener Toleranz zu negieren. In Palästina wurde 2005 das „Freedom Theatre“  von Juliano Mer-Khamis, Sohn einer israelischen Mutter und eines palästinensischen Vaters, gegründet. Im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin sollen mit Mitteln der Kunst soziale und politische Veränderungen hervorgerufen werden. Juliano Mer-Khamis wurde – wie entsetzlich passend – aus dem Spiel genommen und 2011 vor seinem Theater erschossen – aber das Projekt ist äußerst erfolgreich. Ich halte das Theater für eine außergewöhnlich gute Möglichkeit, mit den emotionalen Sackgassen, in die wir in unüberwindbaren Konflikten und Differenzerfahrungen geraten, produktiv umzugehen. Einerseits als Akteure, denn die Kinder und Jugendlichen, die hier spielen (die z.B. die Intifada nachspielen), können ausagieren, was in ihnen an Angst und Frust und Hass steckt, sie können es rausschreien und stellvertretend kämpfen, sie können andere angehen, aber auch in die Rolle des Anderen schlüpfen, sie können eigenes Verhalten ausleben und anderes Verhalten ausprobieren, sie können agieren, reagieren, schöpferisch handeln – und dies alles im Schutzraum des Spielerischen, der Erprobung, des Vorläufigen. Andererseits auf der Zuschauerebene, denn die Zuschauerinnen und Zuschauer werden über das Sehen in eine Distanz zu sich selbst und ihren Erfahrungen versetzt; andere erleben stellvertretend für sie, sie bringen Fragen auf, sie bieten Antworten an und der Zuschauer kann sich aus einem Abstand, den er im Alltag nicht hat, zu dem Angebotenen verhalten. Sehr gut funktioniert dies auch über den Humor: wenn einen andere – und sei es nur für Momente – in eine andere Welt versetzen, dann können wir für einen Moment von unserem Standpunkt weichen, ohne ihn doch wirklich zu verlassen. Zugleich aber wird der Zuschauer im postmodernen Theater auch zunehmend in das Bühnengeschehen involviert. Das ist Teil der performativen Wende in Kunst und Theater: dass die Zuschauer nicht nur distanziert sehen sollen, sondern als Beteiligte erleben sollen. Die vierte Wand fällt und der Zuschauer wird selbst zum Agierenden, zum Mitspieler. Hier stehe ich und kann doch anders.

Darin liegt viel Wahrheit für zwischenmenschliche und auch interreligiöse Begegnungen. Denn es ist gut, dass wir Standpunkte haben, sie sind Teil unserer Identität, aber es ist auch gut, zu sehen, dass das Leben mehr Deutungsmöglichkeiten hat, als unser Standpunkt sie hergibt. Ambiguitätstoleranz, so nennt Thomas Bauer – Arabist und Islamwissenschaftler – das, müssen wir entwickeln und Theater bietet eine großartige Mög-lichkeit, die Toleranz gegenüber den Mehrdeutigkeiten des Lebens zu erleben und zu erproben. Deswegen sehe ich es mit viel Hoffnung, dass mehr und mehr interkulturelle Theaterprojekte initiiert werden und auch intrakulturell ist das gut und wünschenswert, weil wie gesagt, Fremdheitserfahrung sich nicht nur zwischen kulturellen Grenzlinien zeigt, sondern sich kreuz und quer zu unseren Zuordnungen ereignet.

 

5. Vom Theater zur Kirche oder: mehr Schriftrollen, Ezechiel

Ich erzähle vom interkulturellen Theater, weil dies mein Übertragungsmodell ist für das, was sich auch in interreligiösen Begegnungen mehr ereignen muss: weniger redend überzeugen oder verstehen wollen (weil wir in manchen Punkten nie überein kommen und weil wir manches nie verstehen werden und vielleicht auch nicht müssen): Wir brauchen aber in interreligiösen Projekten und auch konkret in unseren Gemeinden – wie im Theater – einen angstfreien Raum, in dem wir agieren können: mit- und gegeneinander, vorwärts- und rückwärts, kreuz und quer. Aber auf jeden Fall dynamisch. Verletzungen und Straucheln und Scheitern in Kauf nehmend, dafür aber auch Vorankommen, Verbundenheit, gemeinsame Spielfreude entdeckend. Wir müssen zu Aktionen übergehen, würde ich mit Joseph Beuys, der ja der Begründer der sozialen Kunst ist, sagen, und da haben wir doch gerade im prophetischen Bereich einige Vorbilder: mit Ezechiel und Jeremia und ihrer Art von Aktionskunst z.B. Ja, ich glaube, wir müssten mit Ezechiel mehr Schriftrollen essen und uns auch mal daran verschlucken, denn ich glaube nicht, dass wir – so wohlwollend wir auch sind – vorankommen, wenn wir uns gegenseitig unsere Heiligen Schriften und Dogmatiken erklären. Es wird nicht ausbleiben, dass wir uns immer wieder kräftig an manchen Überzeugungen verschlucken, an denen anderer, aber auch an eigenen. Und das meine ich nicht nur als Metapher, sondern als reale Übung. Wenn im interreligiösen Dialog Menschen sich jeweils die schwere Kost ihrer Heiligen Schriften leiblich spürbar zeigen könnten, würden sie selbst und ihr Gegenüber die Beschwernisse mancher Texte erleben. Wenn Ezechiel die Belagerung Jerusalems nachstellt, tut er genau das, was die Kinder im Freiheitstheater von Jenin machen. Wenn Jeremia nackt und barfuß geht, dann ist das – egal, ob das ein Bild ist oder damals tatsächlich eine Performance war, um die Botschaft erlebbar und plastisch zu machen – für uns doch ein Anreiz, dass sichtbar zu machen, wo wir allein oder im Miteinander uns nackt fühlen. Dafür dann Ausdrucksformen zu finden, in denen man selbst, aber auch die Anderen spüren und erleben, worum es geht, wäre ein Weg, nicht nur zu sagen, was man   denkt, sondern auch zu zeigen, was man fühlt. Dieser Dimension wurde bislang im interreligiösen Dialog m.E. viel zu wenig Raum gegeben. Und das gilt auch nicht nur für interreligiöse Begegnungen, sondern auch für die Arbeit in den Gemeinden überhaupt, mit Kindern und Jugendlichen v.a., aber auch mit Menschen der anderen Generationen.

Theater und Ritual sind hier auf das engste miteinander verbunden. Denn, so der Ethnologe Victor Turner: „Wie die Kunst lebt die Religion nur, wenn sie dargeboten wird, d.h. wenn ihre Rituale gut funktionieren. […] Denn Religion ist nicht nur ein kognitives System, besteht nicht nur aus einer Reihe von Glaubenssätzen, sondern ist vor allem bedeutungs-volles Erleben und erlebte Bedeutung.“  Deswegen bin ich – insbesondere im protestantischen Kontext – für eine Wiederbelebung des Rituellen und Theatralen. Warum sollen die Jugendlichen, so wie sie in die Welten ihrer PC-Spiele hineingezogen werden, nicht auch in biblische Erlebniswelten hineingezogen werden? Die Textwelten, die wir zur Verfügung haben, können wir auf verschiedene Weisen erlebbar machen – nicht nur intellektuell, sondern mit dem ganzen Leib spürbar.

Der Sänger Bosse spricht in seinem Lied „Steine“ über Dinge, an denen er sich die Zähne ausbeißt und durch die er doch durch muss, damit es besser wird:

Und dann sitz ich auf'm Bett und esse Steine
Deine, meine, große, kleine
Beiß mir die Zähne aus, wenn ich sie zermalme
Ich denk nur so geht es vorbei
Und so sitz ich auf'm Bett und esse Steine
Alte, schwere, spitze, feine
Bis ich fertig damit bin, lasst mich alleine
Ich denk nur so geht es vorbei
So Stein um Stein

Das ist ein starkes Bild, weil hier Dinge, die im Kopf und Herzen eines Menschen vorgehen und die bearbeitet werden müssen, durch den ganzen Leib gehen. Ein Ritual zu entwerfen für Dinge, an denen man sich die Zähne ausbeißt, persönlich, aber auch im Umgang mit Anderen (z.B. zwischen Christen und Muslimen), ist eine starke Idee. Und weiter dann im Text:

Und dann hock ich im Geröll
Grab mit beiden Händen
Was wär', wenn meine Hände plötzlich deine fänden
Was wär', wenn meine Hände plötzlich deine fänden
Was wär', wenn wir uns zwischen Steinen fänden

Ja, was wäre, wenn während wir im Geröll unserer Probleme und Fragen und Konflikte, die wir alle haben, plötzlich andere Hände fänden?