WS 2011/12
Durchsicht der Luther-Bibel. Ein Projekt der EKD zum Reformationsjubiläum 2017
Prof. Dr. Christfried Böttrich
Große Jubiläen kündigen sich für gewöhnlich schon früh an. Das gilt für das Reformationsjubiläum 2017 in besonderem Maße: 500 Jahre Reformation bedürfen einer Vorbereitung, die nicht erst am Vorabend der Feierlichkeiten beginnen kann. Bereits 2007 ist deshalb ein Programm unter dem Stichwort „Reformationsdekade“ gestartet worden, das jedem Jahr auf diesem Weg einen bestimmten Themenkreis zuordnet. Neben zahlreichen Aktivitäten auf Gemeindeebene wird auch an mehreren Forschungsprojekten zur Reformationsgeschichte gearbeitet. Eines von ihnen darf sich einer ganz besonderen öffentlichen Aufmerksamkeit sicher sein, denn es handelt sich dabei um nichts Geringeres als um die „Durchsicht der Lutherbibel“.
Wenn es um den Bibeltext geht, dann geht es für Protestanten immer um etwas Zentrales. Die Bibel ins Deutsche übertragen und in die Hand des Volkes gelegt zu haben – das war eine der wichtigsten Voraussetzungen für alle jene Umwälzungen in Kirche und Gesellschaft, mit denen die Wittenberger Reformation Europa einst erschütterte. Zugleich aber war es auch eine der großen literarischen Leistungen im 16. Jahrhundert. Friedrich Nietzsche bemerkte zu Luthers deutscher Bibel lapidar: „Sie war bisher das beste deutsche Buch.“
Von dieser Leistung erhält man eine Ahnung, wenn man sich ihre Geschichte vergegenwärtigt. Luther hat seit seiner Übersetzung des Neuen Testamentes, die erstmals im September 1522 erschien, Zeit seines Lebens unablässig an den weiteren Schriften wie an dem Text der Bibel im Ganzen gearbeitet. Zunächst erschien das Alte Testament in einzelnen Folgen: die fünf Bücher Moses (1523), Josua bis Ester (1524), Hiob bis zum Hohen Lied (1524). Die Arbeit an den Propheten zog sich hin (1532); das Schlusslicht bildeten die Apokryphen (1534). Zur Frühjahrsmesse 1534 konnte dann erstmals eine Vollbibel präsentiert werden. Dabei blieb es jedoch nicht. Die Arbeit am Text setzte sich fort und schlug sich in allen folgenden Drucken in Gestalt vielfältiger Veränderungen nieder. 1545 besorgte Luther noch kurz vor seinem Tode die Ausgabe letzter Hand. Wenig später erschien 1546 postum eine weitere Ausgabe, in die nun auch alle jene Protokollnotizen des Wittenberger Übersetzerteams eingearbeitet waren, die der Protokollant des Unternehmens, Magister Georg Rörer („der Bibel Corrector“) noch zu Lebzeiten Luthers notiert hatte.
Von Anfang an war diese Übersetzung ein kollektives Projekt. Den ersten Impuls setzte Luthers Einzelleistung auf der Wartburg. Aber schon kurz nach seiner Rückkehr versammelte er in Wittenberg einen Kreis um sich, dem vor allem Philipp Melanchthon als Experte für das Griechische und Matthäus Aurogallus als Experte für das Hebräische angehörten. Der Kreis wechselte. Gelegentlich zog Luther auch jüdische Hebraisten zu Rate, da die Schwierigkeiten im hebräischen Text weitaus größer waren als im griechischen. Zu einer festen Größe wurde seit 1531 Magister Georg Rörer, Diakon an der Stadtkirche und enger Mitarbeiter Luthers, der die Diskussionen des Übersetzerkreises sorgfältig protokollierte und dann für ihre Umsetzung im Druck sorgte. Was da geschah, war ein Abenteuer ersten Ranges. In seinem berühmten „Sendbrief vom Dolmetschen“ (1530) hat Luther darüber Rechenschaft gegeben. Die Geschichte dieser Übersetzung ist inzwischen sorgfältig erforscht und lässt sich in der Weimarer Lutherausgabe (WA Bibel 1-12) nachvollziehen.
Auch die Ausstattung dieser ersten Bibel-Ausgaben spiegelt eine fortwährende, intensive Arbeit wider. Da gibt es Vorreden auf Schriftengruppen wie auf einzelne Schriften. Noch fehlt die Verseinteilung; allein die Kapitel werden gezählt. Dafür ist der Text jedoch in Sinneinheiten gegliedert und mit Atemzeichen versehen, die das Vorlesen erleichtern sollen. An den Rand sind kurze Erklärungen geschrieben, die zum Teil kühne Aktualisierungen vornehmen – zu dem „Wehe“ in Apk 9 etwa notiert Luther: „Das ist der Mahommet mit den Sarazenen“. Kunstvolle Initialbuchstaben schmücken die Kapitelanfänge. Von Anfang an gibt es Bilder. Manche Holzschnitte halten sich durch, andere wechseln; ihre Zahl verändert sich. Von den ersten Separatdrucken bis hin zur Ausgabe von 1546 sammeln auch die Wittenberger Buchdrucker wichtige Erfahrungen mit dem Layout.
Im 16. Jahrhundert steigt die Lutherbibel zum unangefochtenen Bestseller auf. Nicht nur die seriösen Auflagen, sondern auch zahlreiche Raubdrucke beherrschen den Markt. Es versteht sich in dieser Zeit von selbst, dass eine gute lutherische Familie auch eine Lutherbibel besitzt – und darin liest. Ganze Teile dieser Übersetzung werden auswendig gekannt. Viele prägnante Formulierungen gehen in den deutschen Sprichwortschatz ein. Die Lutherbibel wird zum Markenzeichen der Reformation.
Mit der Zeit aber verflacht die verlegerische Sorgfalt. Der Bedarf ist groß. Man druckt die Lutherbibel nach und passt sie dabei den Veränderungen an, die sich im Buchdruck entwickeln. Schon bald wird die Verseinteilung nach dem Vorbild der Edition des griechischen Neuen Testamentes durch Robert Estienne (1550) eingeführt. Die Atemzeichen weichen einer durchgängigen Interpunktion. Die Marginalien verschwinden. Es gibt nun Ausgaben mit und ohne Illustrationen, und auch die Vorreden werden, wenn sie nicht überhaupt ganz wegfallen, neu gefasst. Selbst in den Wortlaut greifen die Herausgeber ein. Syntax und Orthographie richten sich nach den jeweils gültigen Normen, und viele altertümliche Ausdrücke werden ersetzt – häufig aber auch verschlimmbessert. Etwa 300 Jahre lang ist die Lutherbibel Gegenstand „wilder“ Revisionen. Um 1850 gibt es nicht weniger als zwölf verschiedene Fassungen ihres Textes.
1840-45 erscheint erstmals eine wissenschaftliche Edition der Lutherbibel. Damit wird vieles anders. Denn auf dieser Basis stellt man nun auch gezielte Überlegungen an, wie dieses Sprachdenkmal, das in der Reformationszeit beheimatet ist, mit gleicher Sprachkraft in der Moderne wieder Gehör finden könne. Die Revision der Lutherbibel wird unter dem Vorzeichen methodisch verantworteter Kriterien in Angriff genommen. 1857-1892 erfolgt eine erste Revision; eine zweite schließt sich 1903-1912 an. Die revidierte Ausgabe von 1912 dominiert schließlich die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch auch sie kann schon bald mit der rasanten theologischen und sprachlichen Entwicklung nicht mehr Schritt halten.
1921 wird deshalb von den Bibelgesellschaften eine dritte Revision beschlossen, für die man 1928 in Abstimmung mit den Kirchenleitungen einen Katalog von Grundsätzen aufstellt. Darin heißt es einleitend: „Die Luther-Bibel als der lebendige Ausdruck des reformatorischen Evangeliums in der deutschen Sprache muss das Einheitsband der ganzen deutschen evangelischen Christenheit sein.“ Für das Neue Testament erhält die Edition des griechischen Textes durch Erwin Nestle Priorität. Veraltete Wörter, Wortformen, Wendungen oder Satzgebilde, die miss- oder unverständlich geworden sind sowie „schwere Archaismen“ sollen beseitigt werden. Dennoch bleibt es bei den charakteristischen Übersetzungsprinzipien des Originals: „Luthers freie Umdeutschung ist als unveräußerliches Luthererbe zu bewahren. [...] Der Rückschritt zur wörtlichen Wiedergabe soll vermieden werden.“
Die Umsetzung dieser Grundsätze zieht sich hin. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelangen die ersten Ergebnisse zum Druck. Seit 1952 übernimmt dafür eine EKD-Kommission die inhaltliche und organisatorische Verantwortung. Die Revisionen erscheinen zeitlich versetzt: Das Neue Testament 1956, Das Alte Testament 1964, Die Apokryphen 1970. Kritik zieht vor allem der Text des Neuen Testamentes auf sich, so dass der Rat der EKD eine Nachrevision beschließt, die 1975 zum Abschluss kommt: “Luther-NT. Das Neue Testament 1975”. Auf der EKD-Synode in Braunschweig im Herbst 1976 wird dieser Text der Öffentlichkeit feierlich übergeben.
An dieser Revision des Neuen Testamentes von 1975 entzündet sich nun eine Debatte, die ihresgleichen sucht! Die Vehemenz der Kritik kommt einigermaßen überraschend, denn rein formal ist es bei den Grundsätzen von 1928 geblieben. Unter der Hand aber hat das Team der Revisoren, in dem auch Germanisten maßgeblich mitarbeiten, eine entschlossene Anpassung des Textes an die „lebendige gehobene Sprache der Gegenwart“ vorgenommen. Das betrifft nicht nur die Beseitigung von Archaismen, sondern vor allem eine tiefgreifende Veränderung der Syntax. Konsequent wird etwa die Endstellung des finiten Verbs im Nebensatz praktiziert und die Ordnung von Haupt- und Nebensätzen gestrafft. Wenn Mt 25,40 z. B. 1912 hieß: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern ...“, heißt es jetzt: „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt ...“. Ähnlich ergeht es Mt 28,20: Aus „Und siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (1912) wird nun „... bis an das Ende der Welt“ (1975). Das ist klar und verständlich, doch der eigentümlich Duktus von Luthers Sprache, die keineswegs nur Umgangssprache abbilden, sondern auch selbst sprachprägend wirken will, geht in dieser Revision weitgehend verloren. In vielen Partien ist das NT 1975 mehr eigenständige Übersetzung als Revision. Den größten Spott ernten die Revisoren da, wo sie nicht nur Archaismen beseitigen, sondern Modernismen einführen. In Mt 5,15 ersetzen sie etwa in dem Logion: „Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel ...“ den Scheffel durch einen „Eimer“ - was der 1975er Revision den Spitznamen „Eimertestament“ einträgt.
Die Diskussionen laufen auf verschiedenen Ebenen. Im Feuilleton der großen Tageszeitungen sorgt man sich um den Verlust an literarischer Qualität. Exegetinnen und Exegeten äußern theologische Bedenken hinsichtlich der Semantik veränderter Begriffe, die im Bemühen um bessere Verstehbarkeit auch den Sinn verschieben. Für den liturgischen Gebrauch im Gottesdienst erweist sich der revidierte Text als sperrig. Kirchenmusiker klagen die Singbarkeit und die musikalische Qualität der alten Lutherübersetzung ein. Literaturwissenschaftler verweisen auf Inkonsequenzen und ungeklärte methodische Voraussetzungen: Was eigentlich ist „Gegenwartssprache“? Woran bemisst sie sich? Ist der vorliegende Text nicht eher ein literarisches Konstrukt als Ausdruck gesprochener Sprache? Hat nicht gerade Luther bei aller methodischen Rechenschaft auch auf die Kraft seiner sprachlichen Intuition gesetzt?
Sowohl die Revisoren als auch ihre Kritiker schütten in dieser Debatte immer wieder das Kind mit dem Bade aus. Denn grundsätzlich behält das Anliegen sein Recht: Sprache verändert sich; das kann auch eine Übersetzung der Bibel nicht ignorieren, wenn sie lebendiges Wort und kein mit Patina überzogenes Museumsstück sein will. Anderseits: Bleibt die Lutherbibel als solche in ihrer sprachlichen und theologischen Eigenart erkennbar - oder gliedert sie sich in die Reihe moderner Bibelübersetzungen ein, die den Markt inzwischen schon zahlreich erobert haben?
Im Falle des NT 1975 jedenfalls geschieht, was wohl ohne Beispiel sein dürfte: Angesichts der massiven Kritik einer breiten Öffentlichkeit nimmt der Rat der EKD seine Zustimmung wieder zurück und beschließt 1977 eine erneute Nachrevision des Neuen Testaments, der jedoch noch einmal eine fünfjährige Erprobungsphase vorausgehen soll. Das Ergebnis, das 1984 erscheint, nimmt viele der kritisierten Änderungen zurück, behält jedoch bei, was sich inzwischen als sinnvoll erwiesen hat. Der Text des Alten Testamentes und der Apokryphen tritt während dessen ganz in den Hintergrund dieser erregten Debatte um das Neue Testament zurück. Damit ist die Arbeit erst einmal abgeschlossen und die Wogen glätten sich. Seither liest man die Lutherbibel in der Revision von 1964 (Altes Testament), 1970 (Apokryphen) und 1984 (Neues Testament).
Im Blick auf das große Reformationsjubiläum rückt nun die Lutherbibel von neuem in den Blick. Vieles hat sich in den zurückliegenden 30 Jahren verändert. Nicht nur die Sprache hat sich weiterentwickelt. Auch die Textgrundlage ist eine andere geworden. Der griechische Text des Neuen Testamentes wird heute weltweit nach der kritischen Edition von Nestle / Aland 271993 gelesen; für den hebräischen Text des Alten Testamentes sind inzwischen die Textfunde aus Qumran vollständig ausgewertet worden; die Septuaginta liegt weitgehend abgeschlossen in der neuen Göttinger Edition vor. Aber auch der Markt neuer Bibelübersetzungen ist kräftig in Bewegung geraten. Auf katholischer Seite konnte sich die „Einheitsübersetzung“ (1980) als gemeinsamer Text der deutschsprachigen römisch-katholischen Bistümer etablieren. Gegenwärtig wird sie ebenfalls einer erneuten Revision unterzogen. Auch die im reformierten Bereich weit verbreitete „Zürcher Bibel“ (1531) ist seit 2007 in revidierter Gestalt zu haben. Mit der „Gute-Nachricht-Bibel“ (1982) und der „Basisbibel“ (2010) etwa besetzen freie, weitgehend paraphrasierende Übersetzungen das Feld der Umgangssprache. Durch die „Bibel in Gerechter Sprache“ (2006) sind die Prinzipien des Bibelübersetzens wieder mit einer an die 1975er Debatten erinnernden Emotionalität thematisiert worden. Die Zahl weiterer Übersetzungen und Paraphrasen lässt sich kaum noch überschauen. Hier ist der Lutherbibel längt schon eine Konkurrenz erwachsen, gegen die sie sich behaupten muss. Soll sie zum Reformationsjubiläum nur als wertvolles Ausstellungsstück präsentiert werden – oder soll sie sich nach wie vor als lebendiges, die kirchliche Wirklichkeit auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts prägendes Wort erweisen?
Der Rat der EKD hat sich für letzteres entschieden. Im Juli 2010 gab er in einer Pressemitteilung den Beschluss bekannt, die Lutherbibel einer „Durchsicht“ zu unterziehen. Zu diesem Zweck wurde ein Lenkungsausschuss unter der Leitung von Bischof i. R. Dr. Christoph Kähler eingesetzt. An dem Projekt, das sich in die drei Bereiche Altes Testament, Neues Testament und Apokryphen gliedert, arbeiten ca. 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Exegese, Praktischer Theologie, Liturgik und Germanistik mit. Das ehrgeizige Ziel besteht darin, die durchgesehene Lutherbibel noch vor dem Reformationsjubiläum 2017 vorzulegen.
Worum wird es bei diesem Vorhaben gehen? Der vorsichtige Sprachgebrauch ist Programm: Luther soll Luther bleiben, und eine Durchsicht ist weniger als eine Revision. Der Vorsitzende des Lenkungsausschusses hat die Richtung folgendermaßen bezeichnet: „Die Lutherbibel stellt ein kostbares theologisches und kulturelles Erbe dar. Mit diesem Erbe müssen wir behutsam umgehen. Der Wortlaut darf nur verändert werden, wo es die Treue zu den biblischen Zeugen zwingend erfordert.“ In dieser Hinsicht allerdings besteht Handlungsbedarf. Es gibt Lesarten im Text, die nach heutigem Kenntnisstand dringend einer Korrektur bedürfen. Manche theologischen Einsichten, die in der Arbeit der letzten Jahrzehnte gewonnen worden sind, müssen sich auch im Text einer deutschen Übersetzung widerspiegeln. Und was die sprachliche Gestaltung betrifft, so gibt es seit der letzten Revision inzwischen ausreichend Erfahrungen mit dem Text, um strittige Formulierungen noch einmal neu aufzunehmen und zu überprüfen. Erste Proben haben ergeben, dass hier ganz besonders das Alte Testament im Blickpunkt stehen wird.
Die Arbeit der drei Projektgruppen, die inzwischen mit großem Engagement begonnen hat, folgt einem sorgfältig konzipierten Verfahren. Die biblischen Schriften werden von einzelnen Bearbeiterinnen und Bearbeitern durchgesehen, die in den genannten Arbeitsgruppen jeden Änderungsvorschlag gemeinsam diskutieren. Dabei bietet eine Internetplattform die Möglichkeit, jederzeit die Arbeit der anderen Gruppen einzusehen und zu verfolgen. Detaillierte Protokolle dokumentieren den Arbeitsprozess. Die in den Gruppen erarbeiteten Vorschläge werden sodann vom Lenkungsausschuss überprüft. Das Endergebnis liegt schließlich dem Rat der EKD vor, der darüber in letzter Instanz entscheidet.
Wie spannend es ist, sich mit dem Problem der Bibelübersetzung zu befassen, wird erst im Vollzug der Arbeit selbst spürbar. Was Generationen von Übersetzern und Übersetzerinnen seit Luther quälend und beglückend erfahren haben, erschließt sich in seiner gesamten Vielschichtigkeit neu, sobald auch nur ein einziger konkreter Vers auf den Tisch kommt. Denn hier bedarf es nicht nur der nötigen philologischen Kompetenz, sondern auch des theologischen Sachverstandes und sprachlicher Kreativität. Was in der eigenen Schreibtischeinsamkeit noch verschlossen bleibt, erschließt sich plötzlich in der Diskussion der Gruppe. Wer die Arbeitsweise von Luthers Wittenberger Team verstehen will, darf nicht nur die Protokolle Georg Rörers lesen, sondern muss sich selbst im Kreis von Kolleginnen und Kollegen an die Arbeit machen. Erst im gemeinsamen Ringen tauchen dann gelegentlich Formulierung von bestechender Klarheit auf, die kein Wörterbuch und keine Grammatik hervorzubringen vermögen! Diese Erfahrung stellt eine Bereicherung dar, die für die Mühsal eines solchen zeitintensiven Projektes reichlich entschädigt.
Dem Charakter der Durchsicht entspricht es, dass bei der Arbeit nicht nur der Urtext und die einschlägigen philologischen Hilfsmittel herangezogen werden, sondern auch der Luthertext von 1546 sowie seine verschiedenen Vorläuferstufen. Texttreue meint in diesem Falle nicht nur Treue zum Urtext, sondern auch Treue zu Duktus, Klang und Eigenart von Luthers Übersetzung. Dabei stellt sich immer wieder eine überraschende Entdeckung ein: Da wo wir heute der jüngsten Revision gegenüber ein gewisses sprachliches Unbehagen empfinden, bietet der ursprüngliche Luthertext häufig eine Wendung an, die – in leicht angepasster Form – sowohl der Sache als auch dem Zusammenhang weit eher gerecht wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass Luther nun gleichsam wieder „archaisiert“ würde. Verständlichkeit und Klarheit bleiben maßgebliche Kriterien. Aber das poetische Profil des Textes wird sich weniger an „Gegenwartssprache“ als an Luther selbst orientieren. Das lässt sich vom Duktus her etwa an der viel diskutierten Endstellung des finiten Verbs im Nebensatz verdeutlichen: Eine solche Wortfolge signalisiert einerseits einen gehoben Ton, eignet sich andererseits aber auch in besonderer Weise für das laute Lesen des Textes. Wenn es z. B. in 1Petr 1,1 heißt: „Petrus, ein Apostel Jesu Christi, an die auserwählten Fremdlinge, die verstreut wohnen in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien ...“, dann lässt sich das viel leichter hören, als wenn das Verb „wohnen“ erst nach der längeren Aufzählung der einzelnen Adressaten steht. Dennoch darf ein solches Anliegen nicht zum Prinzip erhoben werden, das nun flächendeckend durchgesetzt würde. Ist die Periode kurz, dann erzeugt das vorgezogene finite Verb lediglich Pathos, ohne der Sache zugute zu kommen: „Nach diesem Heil haben die Propheten gesucht und geforscht“ bleibt durchaus der Formulierung „Nach dieser Seligkeit haben gesucht und geforscht die Propheten“ (1Petr 1,10) vorzuziehen.
Hier unterscheidet sich die gegenwärtige Durchsicht generell von früheren Revisionen: Am Anfang steht nicht die Formulierung von Grundsätzen oder Kriterien, die dann konsequent am Text durchgehalten werden müssen. Ausgangspunkt ist vielmehr der konkrete, vorliegende Luthertext, der in jedem einzelnen Vers neu angesehen und nur dort verändert wird, wo sich ein Problem andeutet. Natürlich sind vergleichbare Probleme auf vergleichbare Weise zu lösen, und mit der Konkordanz haben sich alle Übersetzer zu allen Zeiten gleichermaßen geplagt. Doch darin liegt ja gerade eine der Stärken von Luthers Übersetzung, dass sie sich von der sklavischen Bindung an den Urtext zu lösen vermag und – die Intention der Aussage erspürend – einer sprachlich freien, aber sachlich kongenialen Formulierung den Vorzug gibt. Hier lässt sich von der Lutherübersetzung nach wie vor noch einiges lernen, wenn man sich auf das Abenteuer einer minutiösen Textarbeit erst einmal eingelassen hat.
Ein besonderes Problem stellt die Schreibweise der biblischen Eigennamen dar. Je nach Textgrundlage haben sich hier in den großen Konfessionen unterschiedliche Namensformen eingebürgert. Um dieser sichtbaren Trennung abzuhelfen, erarbeitete deshalb eine Kommission aus katholischen und protestantischen Exegeten in den Jahren 1967-1970 ein „Ökumenisches Verzeichnis der Biblischen Eigennamen“, nach dem Tagungsort kurz „Loccumer Richtlinien“ genannt. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Transkriptionsregeln, die etwa die Wiedergabe hebräischer und griechischer Worte mit th/t oder ph/f betreffen, Doppel- oder Einfachschreibungen von Buchstaben klären oder zwischen Formen wie Hiob/Ijob, Kapernaum/Kafarnaum und anderen zu entscheiden versuchen. Was auf den ersten Blick als spitzfindiger Kleinkram erscheint, hat indessen weitreichende Folgen: Im ökumenischen Kontext machen sich Unterschiede in den benutzten Übersetzungen gerade an solchen Namensformen fest. Könnte hier eine Vereinheitlichung nicht auch zu einem einheitlichen Sprachgebrauch in Theologie, Literatur und Kunst führen? Als die Richtlinien 1971 erschienen, war die Revision der Lutherbibel für das Alte Testament und die Apokryphen bereits abgeschlossen. Somit stellte sich die Frage, wieweit man sie im Neuen Testament noch berücksichtigen könne, ohne die Einheitlichkeit des ganzen Unternehmens zu beeinträchtigen. Zwischen 1971 und 1984 entwickelte sich daraufhin ein verwirrendes Hin- und Her, bei dem zunächst vertraute Namensformen beibehalten, Entsprechungen zwischen Altem und Neuem Testament gewahrt und einige weitere Modifikationen vorgenommen wurden. Die „Einheitsübersetzung“ (1980) und die „Gute-Nachricht-Bibel“ (1982) wendeten die „Loccumer Richtlinien“ von vornherein konsequent an. Für die Lutherbibel von 1984 aber blieb es bei einem Kompromiss: In ca. 90 Fällen übernahm sie die neue Schreibweise, in ca. 60 Fällen folgte sie hingegen dem bisherigen Brauch: Es bleibt also z. B. bei Josia (statt Joschia), Kapernaum (statt Kafarnaum), Kyrene (statt Zyrene), Bethlehem (statt Betlehem). Eröffnet die Durchsicht der Lutherbibel vielleicht eine Chance, in der Vereinheitlichung der Eigennamen noch einmal neu anzusetzen?
Bei aller Behutsamkeit gibt es in dem ganzen Projekt jedoch auch einen Bereich, der an Innovationskraft weit über alle früheren Revisionsstufen hinausgeht. Dabei handelt es sich um die „Apokryphen“ - jene Schriften also, die allein in der griechischen Septuaginta über den Textbestand des hebräischen Alten Testamentes hinaus enthalten sind. Während sie in den katholischen Bibelausgaben nach dem Vorbild der Vulgata stets unangefochten als „Deuterokanonische“ Schriften ihren Platz behaupten konnten, sind sie aus der am hebräischen Text orientierten Lutherbibel langsam und allmählich ausgewandert. Dazu hat Luther selbst den Anstoß gegeben, indem er sie von ihrem angestammten Orten zwischen den Büchern der Septuaginta vertrieb und am Schluss des alttestamentlichen Teiles zu einer besonderen Gruppe zusammenfasste – als „Bücher, so nicht der heiligen Schrift gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind.“ Spätestens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen die Apokryphen dann – nicht zuletzt auch unter dem wirtschaftlichen Druck der British and Foreign Bible Society – nur noch als Separatdrucke. Erst jüngst sind sie wieder in den Gesamtbestand der Lutherbibel zurückgekehrt. Dabei stellen sich aber für das Anliegen der Durchsicht die mit Abstand größten Bauchschmerzen ein. Denn die Apokryphen hat Luther selbst nur teilweise übersetzt. Im wesentlichen zeichnen Philipp Melanchthon und Justus Jonas dafür verantwortlich. Der Text, den sie ihrer Übersetzung zugrunde legten, entstammte der lateinischen Vulgata, denn hier musste es bei der Komplettierung der Vollbibel 1534 schnell gehen. Da, wo die Abweichungen zwischen griechischem und lateinischen Text zu groß waren, verwendeten die Wittenberger teilweise sogar einen Mischtext, ohne dafür ihre methodischen Kriterien offenzulegen. Dem reformatorischen Prinzip „ad fontes“ entsprechend kann jedoch auch für die Apokryphen nur der griechische Urtext der Septuaginta gelten! Hier wird es aber schwierig. Im Buch Judith etwa ist der lateinische Text viel kürzer als der griechische. Und für Jesus Sirach gibt es inzwischen mit den Textfunden aus der Kairoer Geniza und aus Qumran auch größere Passagen einer ursprünglich hebräischen Fassung. Bei den Apokryphen wird es also weder um Durchsicht noch um Revision, sondern um eine weitgehend neue Übersetzung gehen, die sich jedoch bemüht, das lutherische Vorzugsvokabular und die von Luther bevorzugten Sprachmuster zu benutzen.
Zum Schluss muss auch das Layout des Textes noch einmal überdacht werden. Überschriften etwa helfen, den Text übersichtlicher zu gestalten, stellen zugleich aber schon eine Form der Interpretation dar. Steht in Lk 15,11-32 etwa „Das Gleichnis vom verloren Sohn“, oder „Das Gleichnis von den beiden Söhnen“, oder „Das Gleichnis von der Liebe des Vaters“? Beliebt sind in vielen Ausgaben die so genannten Kernsätze – also markante Verse, die im Fettdruck hervorgehoben sind. Ist diese Auswahl zu erweitern, oder besser zu reduzieren? Schließlich stellt sich die Frage, welche Texte außerhalb des Psalters als hymnische Passagen auch im Druckbild vom umgebenden Fließtext abgehoben werden sollen.
Wenn es gelingt, den ehrgeizigen Zeitplan einzuhalten, dann wird rings um das Reformationsjubiläum 2017 die Debatte um die Durchsicht der Lutherbibel bereits in vollem Gange sein. Daran werden sich mit Sicherheit nicht nur Theologinnen und Theologen beteiligen. Zuerst wird man wohl die vertrauten Texte unter die Lupe nehmen – etwa Ps 23 oder die Weihnachtsgeschichte in Lk 2. Wird es gelingen, Luthers sprachliches Erbe bewahren und dennoch verständlich und anregend vermitteln zu können? Steht zu befürchten, dass zu viele Köche den Brei verderben? Wird sich die Lutherbibel als zukunftsfähig erweisen?
Die Debatte ist auf jeden Fall erwünscht! Denn was könnte besseres geschehen, als dass zum 500jährigen Jubiläum der Wittenberger Reformation mit Herz und Verstand über den Bibeltext diskutiert würde? Seine Übersetzung – und das heißt seine Aneignung – bleibt ein lebendiger Prozess, der auch allen künftigen Generationen immer neue Denkanstöße vermitteln wird.